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"Wir stehen unter Generalverdacht"

Von Walter Hämmerle und Hermann Sileitsch

Politik
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Schwerer Stand: Szalay-Bobrovniczky hat alle Hände voll zu tun, seine Regierung vor der europäischen Kritik in Schutz zu nehmen.
© Urban

Ungarns Botschafter: "Mein Mitleid mit den Banken hält sich in Grenzen."


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Das Dokument trägt den Vermerk "geheim", fand sich aber dennoch vor einigen Tagen auf der Webseite des Europarates in Straßburg. Versehentlich, wie ein Sprecher betonte. Dabei wird der Bericht der sogenannten Venedig-Kommission erst am 14. Juni offiziell verabschiedet. Das Gremium, dem namhafte Rechtsexperten wie der österreichische Verfassungsrichter Christoph Grabenwarter oder die polnische Ex-Regierungschefin Hanna Suchocka angehören, soll die jüngste Verfassungsänderung in Ungarn unter die Lupe nehmen. Wie der vorab veröffentlichte Entwurf zeigt, wird dieses Urteil sehr harsch ausfallen.

"Wiener Zeitung": Herr Botschafter, beim Eingang hängt eine Deklaration des ungarischen Parlaments von 2010, wo dieses erklärt, das "System der Nationalen Zusammenarbeit (. . .) ohne Kompromisse und unerschütterlich" durchzuführen. Die Formulierung "ohne Kompromisse" widerspricht doch allen parlamentarischen Prinzipien. Was sagt das über das Demokratieverständnis der konservativen Regierungspartei Fidesz aus, die über eine Zweidrittelmehrheit verfügt?

Vince Szalay-Bobrovniczky:Ich sehe hier keinen Widerspruch zu demokratischen Prinzipien - vielleicht deshalb, weil ich diese Deklaration anders lese: Es geht um den Auftrag, gesellschaftlichen Frieden herzustellen. Dieses Ziel ist nicht verhandelbar. Die Mehrheit der Regierung wird gerade im Ausland oft als Gefahr betrachtet. Ich denke, dass die vergangenen Jahre gezeigt haben, dass diese Bedenken unbegründet sind. Man muss bei solchen politischen Deklarationen auch den klaren Wählerauftrag des Jahres 2010 im Auge haben. Das Volk hat so entscheiden, das nächste Mal wird es vielleicht anders entscheiden.

Kritiker der Regierung stellen aber fest, dass sich Ungarn von europäischen Demokratiestandards entfernt und die Regierung Orbán auf politische Konfrontation setzt.

Aus meiner Sicht ist es umgekehrt: Von außen wird versucht, Konfrontation nach Ungarn hinein zu tragen. Europa misst oft mit zweierlei Maß. Es gibt einen Bruch in der Außen- und Innenwahrnehmung Ungarns: Wir finden, dass viele Kritikpunkte unberechtigt sind. Ein Grund für diese verzerrte Außenwahrnehmung könnte der Versuch der Regierung sein, einen neuen Weg bei der Sanierung des Landes zu gehen: Wir wollten die Steuerzahler anderer Staaten nicht belasten, wir haben beschlossen, die Lasten gerecht zu verteilen. Die Banken haben die Krise mitverursacht, also sollten sie auch an den Kosten beteiligt werden. Für mich gibt es hier einen Zusammenhang, dass die Regierung so stark in der Kritik steht. Auch die Antisemitismusdebatte ist völlig aus dem Ruder gelaufen: Diese Regierung hat mit Antisemitismus nichts am Hut, die Vorwürfe entbehren jeder Grundlage.

Der vorab öffentlich gewordene Bericht der Venedig-Kommission, einer Einrichtung des Europarats . . .

. . . aus unserer Sicht wurde der Bericht absichtlich "geleakt", um die Regierung noch mehr ins Eck zu stellen. In diesem werden harte Vorwürfe erhoben, aber wir haben internationale Experten aus Deutschland, Belgien, Norwegen und Frankreich gebeten, die umstrittene Verfassungsreform zu untersuchen, und alle haben die Änderungen demokratiepolitisch für in Ordnung befunden.

Die Kommission bemängelt einiges an der Verfassungsreform von 2012 massiv: Etwa die Gefahr, dass - indem die Würde der ungarischen Nation geschützt werden soll - Minderheitsmeinungen zugunsten der Mehrheitsmeinung beschränkt werden. Oder dass das Verfassungsgericht seine Aufgabe als Wahrer der demokratischen Grundordnung nicht mehr erfüllen kann.

Zum Verfassungsgericht: Es gibt viele EU-Staaten, die überhaupt kein Verfassungsgericht haben. Seit der Reform gilt, dass das Höchstgericht sich in Budgetfragen nur äußern kann, wenn die Staatsverschuldung unter 50 Prozent der Wirtschaftsleistung reduziert wird. Das gilt aber nicht in Fällen, wo Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit verletzt würden. In manchen Staaten kann sich das Verfassungsgericht überhaupt nicht zu Budgetfragen äußern, wir haben hierfür eine vernünftige Grenze gezogen. Auch in anderen Ländern können Verfassungsgerichte nicht über Verfassungsänderungen entscheiden, es sei denn, diese betreffen die Grundrechte. Alles andere fällt in die Hoheit des Parlaments.

Und was die behauptete Einschränkung der Meinungsfreiheit betrifft: Das sind, verzeihen Sie den Ausdruck, Wahnvorstellungen. Kürzlich sollte in Ungarn eine antisemitische Kundgebung auf Motorrädern unter dem Motto "Gib Gas" veranstaltet werden. Das wurde mit Verweis auf die Würde der Nation verboten.

Es soll Pläne der Regierung geben, das Wahlrecht einzuschränken.

Ideen zu Einschränkungen gab es nicht, überlegt wurde eine Wählerregistrierung wie in den USA, aber das ist passé. Was es gibt, ist eine Wahlrechtsreform. Ab den Wahlen 2014 wird es nur noch einen Wahlgang geben, zudem wird die Zahl der Abgeordneten auf 199 Mandatare fast halbiert und die Wahlbezirke neu - und zwar gerechter - eingeteilt.

Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Regierung mit Zweidrittelmehrheit versucht, sich ein Wahlrecht auf den Leib zu schneidern.

Wir stehen unter Generalverdacht wegen dieser Mehrheit. Ich halte es allerdings für ungerecht, dass eine freie Wahlentscheidung der Bürger auf diese Weise von außen korrigiert werden soll. Die Regierung geht mit ihrer Mehrheit verantwortungsvoll um. Gegen Ungarn laufen derzeit rund 25 Vertragsverletzungsverfahren seitens der EU-Kommission, gegen Österreich sind es rund drei Mal so viele. Der Unterschied ist: Unsere werden von den Medien groß breitgetreten. Es gibt in Europa eine Ungarn-Debatte, die wir für völlig überflüssig erachten. Wir haben nichts verbrochen, nichts Unmoralisches begangen, diese Diskussion ist kontraproduktiv vor allem für Europa. Aber missverstehen Sie mich nicht: Wir suchen den Dialog mit den europäischen Institutionen, wir selbst haben zum Beispiel um die Prüfung durch die Venedig-Kommission ersucht, wir stellen uns sachlicher Kritik.

Die Einheit der Nation steht bei der Orbán-Regierung hoch im Kurs. Wie passt das zur extremen Polarisierung zwischen Regierung und Opposition?

Die notwendigen innenpolitischen Debatten werden wie überall auch in Ungarn mitunter in aller Härte geführt. Was nicht geht, ist, dass diese Debatten nach außen getragen werden. Das ist ein Tabu, man zieht im Ausland nicht über die eigene Regierung her.

Wie sieht Ungarn seine künftige Rolle in Europa? Ein Beitritt zu Eurozone ist nicht mehr nur eine Entscheidung über die Währung, sondern darüber, wie stark ein Land bereit ist, sich in sämtlichen wirtschaftlichen Fragen zu integrieren.

Mit unserem EU-Beitritt haben wir uns verpflichtet, auch der Eurozone beizutreten, wenn wir alle Bedingungen erfüllen. Momentan steht aber außer Zweifel, dass die Eurozone nicht gerade sexy ist.

Die EU-Kommission hegt aber starke Zweifel, ob die kurzfristig ausgerichtete Politik zum Abbau des Budgetdefizits langfristig erfolgreich ist. Statt sich zu öffnen, fährt Ungarn einen nationalen Konsolidierungskurs.

Wir schotten uns nicht ab, unser Wirtschaftskurs basiert auf einer fairen Lastenteilung - und das schließt eben auch die Banken ein, zumal unsere Bürger nicht noch stärker belastet werden können, als dies bereits der Fall ist. Der Durchschnittslohn liegt bei 600 bis 700 Euro, die Durchschnittspension bei knapp 300 Euro: Die Bevölkerung ist bereits an der Wand. Wir mussten neue Wege gehen, weil wir uns weder an internationale Institutionen wie den Währungsfonds ausliefern noch die Enteignung von Kontoinhabern wie auf Zypern umsetzen wollten. Mittlerweile schwenken auch andere auf unseren Weg. Wie etwa die SPÖ über die Banken redet, dagegen ist unsere Bankensteuer eine Kleinigkeit.

Als Konsequenz dieser Politik ist die Kreditvergabe an die produzierende Industrie, an Kleinunternehmen massiv gesunken.

Deshalb hat die Nationalbank eine Initiative ergriffen, um KMU mit leistbaren Krediten zu versorgen. Zudem hätten die Banken zahlreiche Möglichkeiten, die Bankensteuer abzuschreiben, etwa durch verstärkte Kreditvergabe. Nur hat davon kein Institut Gebrauch gemacht.

Was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass die gesamte Finanzbranche in Ungarn seit zwei Jahren rote Zahlen schreibt.

Mein Mitleid mit den Banken hält sich in Grenzen.

Orban hat dafür plädiert, dass 50Prozent der Banken in ungarischer Hand sein sollten. Müssen sich österreichische Banken vor Verstaatlichung fürchten?

Nein, das geht nicht und will auch niemand. Orbán hätte gerne mehr Banken in ungarischem Privatbesitz, aber hier hat die Politik keinen Einfluss.

Ist der hohe Anteil ausländischer Banken ein Problem für Ungarn?

Die ungarische Kreditklemme kommt teils von den finanziellen Problemen der Mutterbanken im Ausland. Das Image der Banken insgesamt ist nicht gut, das hat vor allem mit dem hohen Anteil an Franken-Krediten zu tun.

Vince Szalay-Bobrovniczky, geboren 1972 in Budapest, ist seit Ende 2010 Botschafter Ungarns in Wien. Davor arbeitete der Diplomat, der in München und Budapest Geschichte und Europapolitik studierte, im Außenministerium.