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"Wir stehen wohl gerade erst am Anfang"

Von Teresa Reiter

Politik

Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjorn Jagland, über Flüchtlinge in Europa und das Engagement der Zivilgesellschaft.


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Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention schuf der Europarat 1950 ein Abkommen zum Schutz aller Menschen auf dem Kontinent. Generalsekretär Thorbjorn Jagland sprach beim IPI Salzburg Forum unter anderem über die Bedeutung der Konvention in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise.

"Wiener Zeitung": Uns bisher unbekannte Szenen spielen sich an Europas Außen-, aber auch an Binnengrenzen ab. Länder bauen Zäune, Grenzkontrollen verschwinden und kehren wieder. Ist Europa total ins Chaos geschlittert?

Thorbjorn Jagland: Es stimmt, bis jetzt herrschte Chaos. Aber nun entwickelt sich etwas Neues - und zwar hauptsächlich durch das Aktivwerden der Zivilgesellschaft, die richtig handelte. Das gibt auch politischen Führungskräften Möglichkeiten, diese Solidarität in Staatssolidarität umzuwandeln. Ich glaube, eine Art europäischer Zugang ist dabei, sich zu entwickeln.

Hätte man das nicht schon früher haben können? Die Zivilgesellschaft gab es ja auch schon vor den vergangenen Wochen.

Die Zivilgesellschaft war tatsächlich schon die ganze Zeit über da. Aber ich glaube es war eine große Überraschung für Politiker, wie stark sie geworden ist. Das hat ihnen Spielraum verschafft.

Es geht nicht nur um Solidarität mit Flüchtlingen, sondern auch um Solidarität zwischen den EU-Staaten. Großbritannien etwa hat sehr lange gebraucht, um zu handeln, und nimmt jetzt 20.000 Flüchtlinge auf. Was ist für Sie der Grund dieses Sinneswandels?

Das Foto des ertrunkenen syrischen Jungen hat sehr viel dazu beigetragen. Politiker haben auch gesehen, was draußen auf der Straße passiert, die Großzügigkeit der Menschen. Sie waren gezwungen, nachzuziehen. Bis jetzt waren sie es gewohnt, dass die Leute gegen Einwanderung eingestellt waren, und plötzlich dreht sich die Situation um.

Der rumänische Premier Victor Ponta verlautbarte, dass er einer Länderquote zur Verteilung der Flüchtlinge nur zustimmen wird, wenn Rumänien in den Schengen-Raum aufgenommen wird. Aus der Slowakei hört man, dass nur christliche Flüchtlinge erwünscht sind. Ist das der europäische Zugang, von dem Sie sprechen?

Nein. Das ist absolut nicht der Moment, um Bedingungen zu stellen. Diese Position, ausschließlich Christen aufnehmen zu wollen, widerspricht der Europäischen Menschenrechtskonvention völlig. Es ist nicht erlaubt, auf der Basis von Religion oder Herkunft zu diskriminieren. Alle Menschen auf diesem Kontinent haben exakt dieselben Rechte. Das gilt auch für jene, die von außerhalb kommen. In der Sekunde, in der sie ihren Fuß auf europäischen Boden setzen, stehen sie unter dem Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dabei ist es egal, ob sie nun Christen, Muslime oder sonst was sind.

In der Praxis funktioniert das aber nicht immer. Erst kürzlich entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen Italien, weil das Land drei Tunesier unrechtmäßig abgeschoben hatte.

Dieses Urteil des Gerichtshofs war bahnbrechend. Es gibt andere Urteile dieser Art, zum Beispiel gegen Belgien, das Flüchtlinge zurück nach Griechenland schicken wollte. Der Gerichtshof urteilte, dass sie das unter den damals vorliegenden Umständen nicht tun durften. Ich glaube, der Gerichtshof spielt eine sehr wichtige Rolle dabei, gewisse Standards in den Mitgliedsstaaten aufrechtzuerhalten.

Was passiert, wenn das Engagement und Interesse der Zivilgesellschaft nachlässt?

Es gibt immer das Problem, dass wir den Fernsehkameras folgen, und wenn diese sich einem anderen Problem zuwenden, tendieren wir zu vergessen, was gestern passiert ist. Ich hoffe sehr, dass diese Solidarität anhält, denn wir stehen noch nicht am Ende dieses Problems, ja wahrscheinlich stehen wir gerade erst am Anfang. Es ist also wichtig, weiterzumachen.

Zur Person

Thorbjorn Jagland ist ein norwegischer sozialdemokratischer Politiker und seit 2009 Generalsekretär des Europarates.