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Mehmet J. protestiert seit neun Tagen im Gezi-Park. Für die Freiheit, wie er sagt.
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Mehmet J. hat sich seit neun Tagen auf dem Taksim-Platz beziehungsweise im benachbarten Gezi-Park niedergelassen und kämpft mit einigen seiner Freunde an vorderster Front für die Erhaltung des Parks, aber auch für die Freiheiten der jungen Türken. Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" geht er mit der Regierung von Premier Erdogan scharf ins Gericht. Er wettert gegen die Islamisierung der Türkei und sieht den "Kampf um den Gezi-Park" als "Kampf für die moderne Türkei".
Aus einem kleinen Protest gegen den Bau eines Einkaufszentrums auf dem Gelände des Parks ist eine Massenbewegung im ganzen Land geworden, die nun schon zwei Wochen andauert. Obwohl die Polizei in den vergangenen Stunden eher zurückhaltend agierte, gab es wieder Verletzte. Der in Bedrängnis geratene Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan räumt zwar Fehler in der Vorgehensweise ein und bringt ein Referendum über die Park-Gestaltung ins Spiel, will aber weiterhin Härte gegenüber den Besetzern zeigen. Am Donnerstag richtete er eine "letzte Warnung" an die Demonstranten.
"Wiener Zeitung":Es ist heute wieder ruhiger geworden auf dem Taksim-Platz. Ist diese Ruhe trügerisch?Mehmet J.: Lassen Sie mich zuerst einmal sagen, dass die Türken ein friedfertiges Volk sind. Vor allem wir, die Demonstranten, sind keine Schlägertypen oder kein Gesindel, wie von einigen hochrangigen türkischen Politikern gemutmaßt wird. Es stimmt, dass es derzeit ruhig ist, aber das kann sich in den Nachmittagsstunden immer schnell ändern. Abends, wenn die Menschen von der Arbeit kommen, haben sie das Bedürfnis, uns hier zu unterstützen, und dieses Gefühl des Zusammenhalts tut gut. Wir werden nicht aufgeben.
Die Polizei war zuletzt zurückhaltender, Erdogan hat aber ein sofortiges Ende der Proteste gefordert, sonst will er hart durchgreifen.
Es ist völlig egal, was Erdogan will oder nicht will. Wichtig ist, was die Bevölkerung fordert. Und wir fordern Freiheit. Heute ist es der Gezi-Park, in dem eine Moschee gebaut wird, morgen folgt das Alkoholverbot und übermorgen erleben wir eine islamisierte Gesellschaft, in der meine Freundin schief angesehen wird, wenn sie kein Kopftuch trägt. Und genau zu dieser Entwicklung sagen wir ganz klar Nein.
Dennoch müssen Sie zugeben, dass die Demonstranten hier nicht die gesamte Türkei repräsentieren und Erdogan vor allem auf dem Land starken Rückhalt hat. Viele seiner Anhänger skandieren auf Transparenten, dass sie bereit wären, für ihn zu sterben, und loben seine Politik der letzten zehn Jahre, die der Türkei einen Wirtschaftsaufschwung gebracht hat.
Ja und dafür sind wir ihm auch dankbar. Aber sehen Sie sich die Verletzten an. Erdogans Krisenmanagement in dieser Sache ist gleichzusetzen mit dem Elefanten im Porzellanladen. Je mehr die Bilder der Gewalt und der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung über die TV-Bildschirme flimmern, desto mehr Bevölkerungsgruppen schließen sich dem Protest an. Vor zwei Wochen begannen die Proteste in der Türkei im kleinen, harmlosen Rahmen anlässlich einer Aktion von Umweltschützern zur Rettung des Gezi-Parkes. Mittlerweile gibt es überall Demonstrationen. Von Ankara bis hin zur iranischen Grenze bringen sie die AKP-Regierung durch ihre Tragweite im ganzen Land in die Bredouille.
Der absolute Großteil der Demonstranten ist aber nicht politisch organisiert, es gibt auch keinen klaren "roten Faden".
Wir sind ein bunter Haufen, und das ist gut so. Ärzte, Studenten, Mechaniker, Taxifahrer. Alle sind hier. Zunächst richtete sich unser friedlicher Widerstand gegen die Bagger, die den Park zerstören wollten, doch nun geht es um weit mehr. Wir wollen das liberale Herz der Freiheit der Türkei, den Taksim-Platz mit dem Gezi-Park, nicht aus dem islamistisch orientierten Körper des Landes reißen lassen. Dafür werden wir bis ans Ende kämpfen.
Erdogan hat ein Referendum für den Park angeboten, wenn sich die Park-Besetzer zurückziehen.
Gleichzeitig lässt er Tränengas, Wasserwerfer und Knüppel gegen seine eigene Bevölkerung einsetzten. Das ist doch alles Augenauswischerei. Genauso wie diese Scheingespräche mit Vertretern der Demonstranten. Wir beispielsweise wurden gar nicht erst eingeladen. Ich sehe die Geschichte mit dem Referendum als taktisches Manöver.
Am Wochenende soll es wieder eine Großkundgebung geben.
Ja, wir werden wieder ein deutliches Zeichen setzen, aber friedlich. Die Polizei wird es dann hoffentlich nicht mehr wagen, so brutal und hinterhältig vorzugehen, wie sie es in den vergangenen Tagen getan hat.
Die Regierung hat von einem Ende der Toleranz gesprochen.
Dann wird sie dafür einen sehr hohen Preis bezahlen.