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Wir westlichen Chinesen

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Die kapitalistische Gesellschaft des Westens hat bereits konfuzianistische Züge. Die Zeit der "gelben Gefahr" ist längst passé. Heute können wir viel von China lernen.


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Wie die Chinesen sind wir jetzt. Dem Namen nach haben wir zwar noch eine kapitalistische Wirtschaft, aber wenn es hart auf hart kommt, misstrauen wir einem allzu freien Markt. Dann wollen wir von der Regierung Sicherheit und Schutz. Der neue Interventionismus ist nicht so sehr sozialistisch, sondern konfuzianistisch - also ein Glaube, dass eine öffentlich-private Zusammenarbeit der klügsten Köpfe uns aus dem Schlamassel helfen kann.

Und falls das ein Trost sein kann: Die Chinesen werden immer mehr wie wir im Westen, auch jetzt noch, wo wir immer mehr wie sie werden. Auch eine Vorschau auf die heutige staatliche Intervention in den westlichen Staaten gaben uns die Chinesen bereits: Beim Börsencrash 1998 kaufte die chinesische Regierung die abgesackten Aktien, um einem Spekulations-Taifun, der die lokale Wirtschaft hart getroffen hatte, entgegenzuwirken.

Damals waren viele im Westen schockiert über die chinesische Intervention und brandmarkten sie als gefährlichen Präzedenzfall. Sie half aber, den Markt zu stabilisieren. Aus heutiger Sicht nimmt sich dieser Rettungsversuch bescheiden aus - Geld im Wert von nicht mehr als 15,1 Milliarden Dollar wurde investiert: Verglichen mit der Quasi-Verstaatlichung der größten Banken der Welt, die wir diese Woche erlebt haben, ist das fast nichts.

Die Chinesen sind den Märkten gegenüber sehr vorsichtig geblieben, obwohl ihre Version des Kapitalismus beispiellos Wachstum und Aufschwung gebracht hat. Mitten im Wohlstand blieben sie beim Sparkurs. Und sie widersetzten sich dem Druck, ihre Währung aufzuwerten, auch wenn alles noch so sehr

dahin drängte, weil sie die Konsequenzen fürchteten.

"Das verlorene Jahrzehnt" der Japaner, die Zeit der wirtschaftlichen Stagnation, sei die Folge davon, dass der japanische Yen während des Wirtschaftsbooms zu rasch aufgewertet worden sei, sagte mir vor einigen Jahren ein Mitarbeiter der chinesischen Notenbank in Peking. Die Chinesen wollten nun nicht den gleichen Fehler machen.

Und auch das russische Modell des wilden "Oligarchen-Kapitalismus" wirkte auf die Chinesen abschreckend: Es ist ihnen zu rau, zu raffsüchtig.

Bis sich der Staub, den die Finanzmarktkrise aufgewirbelt hat, wieder legt, wird es Monate dauern. Erst dann werden die Umrisse der neuen Ordnung klarer werden.

Peter Schwartz von der Monitor Group, mein bevorzugter Zukunftsforscher, ist der Ansicht, dass wir gerade in ein neues politisches und wirtschaftliches Paradigma eintreten: "Offensichtlich haben wir uns vom demokratischen Kapitalismus soeben einen großen Schritt wegbewegt."

Das Bretton-Woods-II-Regime - wonach (vereinfacht ausgedrückt) asiatische Länder den USA Geld leihen, damit man dort weiter über seine Verhältnisse leben kann - ist eine Quelle der Instabilität. Dieses System des Ungleichgewichts im Welthandel muss zu etwas viel stabilerem entwickelt werden. Ganz einfach ausgedrückt: In China sollte mehr konsumiert werden, in den USA weniger.

Die Chinesen werden nach den Erschütterungen der letzten Monate wohl danach trachten, in Zukunft weniger leicht von den Entwicklungen auf den Weltmärkten getroffen werden zu können. Sie werden daher wahrscheinlich mehr Gewicht auf den Binnenhandel und auf den Konsum legen als auf den Export.

Aber China und der Westen werden einander weiterhin brauchen, vielleicht mehr als jemals zuvor. Dass China nach Privatisierungen strebt, während die USA und Europa auf Verstaatlichung setzen, ist ein Zeichen der Hoffnung. Wir werden einander immer ähnlicher.

Übersetzung: Redaktion

briefausdenusa@wienerzeitung.at