Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die jüngere Vergangenheit hat Europa die Augen geöffnet. Dass wir viel zu wenig voneinander wissen, haben ja alle irgendwie geahnt. Neu ist das Ausmaß unserer Unkenntnis: Wir wissen jetzt, dass wir so gut wie nichts voneinander wissen. Und diese Erkenntnis bezieht sich nicht nur auf die "einfachen Bürger" in den mittlerweile 28 Mitgliedstaaten der Union, sondern auch auf ihre nationalen Eliten in Kultur, Politik, Medien, Wirtschaft. Nicht einmal die Eurokraten in Brüssel, Straßburg und Luxemburg haben die Tiefe des Grabens erahnt, der die Menschen in ihrem Denken, Handeln und Fühlen quer durch den Kontinent nach wie vor trennt.
Dass sich gleichzeitig eine eng vernetzte europäische Zivilgesellschaft entwickelt, die viel reist und ständig online ist, ist kein Widerspruch. Diese Gruppe ist zwar organisations- und meinungsstark, aber zahlenmäßig gering. Die Unterschiede treten nur umso markanter hervor. Der Umgang mit der Flüchtlingskrise funktioniert dabei allenfalls als Erkenntnisbeschleuniger wie zuvor die Abgründe, die sich im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise aufgetan haben.
Jetzt erst lernen wir mit einigem Staunen, dass die Menschen in Osteuropa mit Migration aus anderen Kulturkreisen, wie sie der Westen seit Jahrzehnten erlebt, genau gar keine Erfahrungen haben. Das gilt insbesondere für den Islam. Sogar die Mentalität der Ungarn, mit denen wir Österreicher über Jahrhunderte aufs Engste verbunden waren, ist uns zum Rätsel geworden.
Dass die Briten in zahllosen Fragen anders ticken, haben wir ja schon länger geahnt; dass es auf der Insel aber auch gravierende Differenzen zwischen Schotten und Engländern gibt, war schon dem Rest Europas weit weniger geläufig. Und dass ausgerechnet in den zutiefst sozialdemokratisierten Gesellschaften Schweden und Finnland erheblich mehr Menschen für einen "Grexit" eintreten als für den Verbleib Athens in der Eurozone, lässt einen ratlos zurück. Aber immerhin ist jetzt Allgemeingut, dass das moderne Griechenland allenfalls den Namen mit jener Kultur teilt, die Sokrates, Platon, Perikles, Thukydides und Pythagoras hervorgebracht hat, dessen Gegenwart aber sehr viel stärker von den Osmanen, den Narben der deutschen Okkupation und den Langzeitfolgen von Militärdiktatur und Klientelismus geprägt ist.
Ein integriertes Europa hat noch einen sehr, sehr langen Weg vor sich.