Flüchtlingen soll mehr geboten werden als bloß Essen und Obdach.
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Wien. Hamed musste schnell erwachsen werden. Vor seinen Augen wurden Menschen erschossen, sind in den Fluten des Meeres ertrunken oder auf andere qualvolle Weise zu Tode gekommen. Hamed ist gerade einmal 12 Jahre alt. Mit acht Jahren verließ er seine Heimat Afghanistan, reiste quer durch Europa und landete schließlich in Wien. Hier erhält er seither psychologische Betreuung, hat ein Dach über dem Kopf und täglich warme Mahlzeiten. Doch zu innerer Ruhe kommt Hamed nicht. In etliche Schlägereien war er bereits verwickelt und sucht stets die Konfrontation. Schließlich greift er eines Tages zu einer Rasierklinge und versucht seinem Leben ein Ende zu setzen. Er konnte rechtzeitig gerettet werden.
Das Schicksal des jungen Afghanen wühlte Anahita Tasharofi tief auf. Die Studentin für Internationale Entwicklung spricht persisch und war Hameds Übersetzerin in seinen Therapiestunden. "Den Kindern ist mit Therapie allein nicht geholfen, sie wollen auch einfach unbeschwert Spaß haben können", erzählt sie. Es gibt noch viele Kinder wie Hamed. Sie stammen aus Tschetschenien, Pakistan oder Somalia. Nach der gefährlichen Flucht kommt die Einsamkeit in der Ferne. Denn einige Minderjährige sind nicht nur alleine gekommen, sie haben in Wien auch keine Angehörigen.
Im Juni hat Tasharofi gemeinsam mit Sammy Zayed, Mitbegründer der Plattform Austrian Talent Network, das Projekt "Flucht nach Vorn" ins Leben gerufen. Ziel ist es, die jungen Flüchtlinge aus ihrer Isolation zu holen, mit ihnen ins Kino zu gehen, ins Museum, auf Grillfeste, ins Schwimmbad. Ein bisschen Normalität eben. Ihre Vision ist klar: Nicht nur die Grundbedürfnisse von jungen Flüchtlingen müssen gestillt werden, sie müssen auch Freude am Leben haben. Viele Kinder haben keine Familie und keine Stabilität in Österreich, niemanden, der sie auffängt.
Nachfrage ist groß
Die ersten Kinder und Jugendlichen wurden anfangs von Tasharofi auf der Straße angesprochen, und mit der Zeit entstand so ein Netzwerk. "Wir gehen zu betreuten WGs und erzählen den Kindern und Jugendlichen von unseren Programmen." Die Nachfrage ist groß. Zu manchen Treffen kommen schon einmal 70 Kinder.
"Diese Kinder wollen nicht bemitleidet werden. Sie haben so viel zu geben, haben so viele Sprachen allein auf der Flucht nach Österreich gelernt, sind talentiert, doch werden hier kaum gefördert", sagt Tasharofi. Der Umgang mit traumatisierten Kindern fiel ihr anfangs schwer. "Sie sind schwer zum Lachen zu bringen und wirken sehr ernst im Umgang miteinander", sagt sie. "Sie waren zu Beginn sehr skeptisch und haben nicht verstanden, warum wir das überhaupt für sie machen", fügt Zayed hinzu.
Die Angst vor Spannungen zwischen den traumatisierten Kindern hat sich als unbegründet erwiesen, denn auf den Events sind viele neue Freundschaften entstanden.
Auch der Integrationsaspekt soll bei diesem Projekt nicht zu kurz kommen. Egal ob Sportler, Künstler oder Gastronomen: Ziel ist es auch, die Kinder mit positiven Vorbildern in Kontakt zu bringen, um ihnen Mut für die Zukunft zu machen. "Wir wollen die Kinder ermächtigen", erzählt die Mitwirkende Seray Arslan. So sollen die jungen Flüchtlinge selbst wählen, was sie tun und lassen wollen und nicht einfach nur durch den Tag kommen. Und sie sollen für ein paar Stunden alle Sorgen rund um ihren Asylantrag vergessen. Doch abends Freunde treffen, Spaß haben und gemeinsame Familienabende - solche Szenarien sind vielen jungen Flüchtlingen fremd. "Mit 12 Jahren solltest du nicht deinem Leben ein Ende bereiten wollen, du solltest dich am Leben erfreuen, das wollen wir den Kindern, so weit wir können, etwas ermöglichen", sagt Tasharofi. Viele der Projektmitarbeiter stammen selbst aus anderen Ländern, kennen das Gefühl, die Heimat zu verlassen und sich in einem anderen Land fremd zu fühlen.
Kinder erkunden die Stadt
Die Veranstaltungen werden stets an verschiedenen Orten durchgeführt, damit die Kinder auch mehr von Wien sehen und lernen. Viele würden jahrelang an dieselben Orte gehen und täglich dieselben Gesichter sehen. So sollen sie nicht nur mehr von der Stadt sehen, sondern sich auch endlich in Wien wohlfühlen.
Mittlerweile bieten die Initiatoren auch spezielle Angebote für Mädchen an. Besonders ein Mädchen blieb Tasharofi im Gedächtnis. "Bei einem Tanzworkshop ist ein Mädchen richtig aufgegangen, und alle waren ganz baff über ihre Tanztalent", erzählt sie. Eine Anmeldung bei einem Tanzkurs für das Mädchen ist bisher aus finanziellen Gründen gescheitert. Längerfristig soll dies und vieles mehr den jungen Flüchtlingen aber ermöglicht werden. Bis dato wird das Projekt ausschließlich aus Eigenmitteln finanziert.