Mit dem Ausbruch des zweiten Tschetschenien-Krieges im Jahr 1999 kamen etwa 6.000 Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Menschen, nach Georgien. Da eine ethnische Verwandtschaft mit der nördlich der Provinzstadt Achmeta ansässigen Bevölkerung der Kisten besteht, ging der Flüchtlingsstrom hauptsächlich in dieses von etwa 11.000 Menschen bewohnte Gebiet, das so genannte Pankisi-Tal. Die georgische Regierung zementierte diese Entwicklung, indem sie nur die im Pankisi-Tal lebenden Flüchtlinge zu unterstützen beabsichtigte.
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Zu diesem Zweck trat sie an das Flüchtlings-Hochkommissariat der Vereinten Nationen, UNHCR, heran, das die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge von Anfang an mittrug oder mitzutragen hatte. Flüchtlinge, die beispielsweise in die georgische Hauptstadt Tiflis weiterzogen, taten dies auf eigene Verantwortung und sind nach wie vor von den Versorgungsleistungen des UNHCR ausgeschlossen. Nach jüngsten Zählungen betrifft dies 176 Personen (insgesamt befanden sich laut Statistik des georgischen Flüchtlingsministeriums am 30. Juni 3.812 tschetschenische Flüchtlinge in Georgien).
Einer dieser Flüchtlinge, die sich in Tiflis recht und schlecht über Wasser halten, ist Ruslan Agaev. Er kam mit vierzig weiteren Familienmitgliedern nach Georgien; geblieben sind fünf. Der Bruder seiner Frau zum Beispiel ist nach Tschetschenien zurückgekehrt - und wurde ermordet. Ruslan und seine Familie leben in einem Vorort von Tiflis in äußerst beengten Verhältnissen. Trotzdem muss er froh sein, einen Vermieter gefunden zu haben, der nicht pünktlich am ersten des Monats die Miete abholen kommt, sondern manchmal lange wartet, bis irgendwelche Zuwendungen vom Ausland eintreffen. Aufgrund seiner Not und der anderer tschetschenischer Flüchtlinge in Tiflis hat sich Ruslan zum Sprecher von 87 Flüchtlingen bzw. 22 Familien gemacht, die seit einigen Monaten dem UNHCR ihr Leid klagen und fordern, in ein Drittland umgesiedelt zu werden, weil die Situation in Georgien unerträglich geworden sei. Mit dem UNHCR verknüpft Agaev nicht zuletzt deshalb all seine Hoffnungen und Erwartungen.
Zu geringe Essensrationen
Die Kritik Agaevs am UNHCR umfasst mehrere Punkte. So sei die Gesundheitsversorgung unzureichend, die Essensrationen seien zu gering und würden nicht regelmäßig ausgeteilt, und die Unterbringung der Flüchtlinge sei nicht zufriedenstellend gelöst. 85 Prozent der Flüchtlinge im Pankisi-Tal sind bei Gastfamilien untergebracht. Das habe Konflikte zwischen den einheimischen Kisten und den Flüchtlingen zur Folge; im letzten Jahr seien die Beziehungen zunehmend schlechter geworden. Obwohl der UNHCR betont, dass die Kisten von manchen Leistungen wie der Renovierung lokaler Infrastruktur, der Verteilung von Medikamenten und anderem profitiert hätten, ist es laut Agaev an der Tagesordnung, dass sich einige besondere Vorteile verschaffen wollten, durch den Handel mit Flüchtlingsausweisen, für die am Schwarzmarkt etwa zehn Euro bezahlt werden.
Deportationen
Die Bewegungsfreiheit im Pankisi-Tal, so Agaev, sei äußerst beschränkt, besonders seit die sogenannten Anti-Terror-Maßnahmen der georgischen Regierung in Zusammenarbeit mit den USA greifen. Für die Flüchtlinge, die zum Teil unter Kriegstraumata leiden, ist die militärische Präsenz besonders furchterregend. Unter dem Vorwand, Terrorismus und Kriminalität zu bekämpfen, werden die Flüchtlinge kontrolliert und in Schach gehalten. Es seien Fälle von Deportierten oder Verschwundenen bekannt geworden, so etwa der Fall des 25jährigen Studenten Hussein Jusupov, der im September 2002 vom Pankisi-Tal kommend nach Rustavi unterwegs gewesen war, festgehalten wurde und bis zum heutigen Tag nicht mehr aufgetaucht ist.
Hussein war im Besitz eines Flüchtlingsausweises. Er hatte einen tragbaren Computer bei sich, was angeblich Aufsehen erregt hat. Seine Mutter, die der Gesellschaft der tschetschenischen Mütter und Kinder angehört, berichtet, dass sie das letzte Mal fünf Tage nach seiner Festnahme per Telefon von ihrem Sohn gehört habe. Er sei in das Antiterroristische Zentrum in Tiflis gebracht worden und teilte ihr mit, dass er freigelassen werden sollte. Am Tag der angeblichen Freilassung sei er aber nicht erschienen. Sämtliche Stellen, die Frau Jusupova seither um Aufklärung des Falls ihres Sohnes gebeten hat, wissen angeblich von nichts. Husseins Mutter hat größte Angst, zum Beispiel, dass ihr Sohn nach Tschetschenien verkauft oder gar getötet worden sein könnte.
Ruf nach Auslandshilfe
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die Flüchtlinge große Hoffnung auf eine Aussiedlung ins Ausland hegen, das ihnen und ihren Kindern die Chance auf ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnte. Laut der Repräsentantin des UNHCR in Tiflis, Catherine Bertrand, haben bis jetzt aber nur die USA ein Angebot gemacht, einzelne Flüchtlinge aufzunehmen, und zwar hauptsächlich Frauen und Kinder. Da die Sicherheitsbestimmungen im Fall der tschetschenischen Flüchtlinge aber besonders groß sind, dauere die Auswahl sehr lang und werfe wiederum Probleme auf, wie etwa Konkurrenzkämpfe unter den Flüchtlingen, übersteigerte Erwartungen und anderes. Insgesamt, so Catherine Bertrand, gestalte sich die Zusammenarbeit mit den tschetschenischen Flüchtlingen schwierig. So hätten sie sich als unfähig erwiesen, einen allgemein anerkannten Vertreter zu wählen, und daher gäbe es keine offizielle Ansprechperson, mit der der UNHCR in Verbindung treten könne.
Die Flüchtlinge selbst fordern, dass eine unabhängige Kommission eingesetzt werden soll, die die Situation der tschetschenischen Flüchtlinge in Georgien untersuchen und Empfehlungen zur Verbesserung ihrer Lage abgeben solle. Dies würde dabei helfen, so Agaev, die Probleme der Flüchtlinge ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und den verfahrenen Dialog mit dem UNHCR wiederherzustellen. Sein Ziel sei einfach, dass den tschetschenischen Flüchtlingen ein normales Leben ermöglicht werde.