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Die EU-Grundrechts-Charta soll beim Dezember-Gipfel in Nizza feierlich proklamiert werden. Die 54 Artikel sind derzeit nicht verbindlich und werden es, nach Ansicht von Heinrich Neisser, früherer Zweiter Nationalratspräsident und Mitglied des Grundrecht-Konvents, nicht so schnell werden. Auch der Präsident des Verfassungsgerichtshofes (VfGH), Ludwig Adamovich, sieht Probleme bei der Rechtsverbindlichkeit.
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Im Rahmen einer Podiumsdiskussion der Politischen Akademie der ÖVP zum Thema EU-Grundrechte-Katalog, unter der sachverständigen Moderation von "Presse"-Redakteur Benedikt Kommenda, betonte Neisser am Montag in Wien, dass die Charta derzeit nur eine "politische Deklaration" sei. Der Auftrag an den Konvent war eine reine Bestandsaufnahme der europäischen Grundrechte.
VfGH-Präsident Adamovich lobte die Arbeit als "wertvoll und verdienstlich", gleichzeitig sah er aber auch Probleme wie die "schwerwiegende" Frage der Verbindlichkeit. Dabei seien nicht die klassischen Grundrechte der Streitpunkt, sondern die sozialen Grundrechte. In jedem Land würden sie verschieden ausgelegt, was allgemeine Formulierungen erschwere.
Der Katalog sei "ein Kompromiss", betonte Neisser, und deshalb in einigen Passagen "nicht schlüssig". Einige wichtige Fragen seien noch "aufgeschoben". Klar ist für den früheren Nationalratspräsidenten allerdings, dass eine Verbindlichkeit nicht bis zum EU-Gipfel im Dezember durchgesetzt werden könne. Unter Umständen wäre eine "teilweise Verbindlichkeit" zu überlegen, formulierte Neisser.
Adamovich ortete noch andere Konfliktbereiche, wie die Formulierung, dass die Freiheit der Medien "geachtet", nicht "gewährleistet" werde. Neisser begründete dies mit dem Bestreben, "staatsinterventionistische Eingriffe" zu vermeiden.
Weiters mutmaßte der VfGH-Präsident, dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) die Charta auch ohne Verbindlichkeit anwenden werde, denn er sei nicht "zimperlich wenn es um Rechtsfortbildung gehe".
Orientiert habe man sich in der Gestaltung des Grundrechte-Kataloges an der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), so Neisser. Besonders wichtig sei in der Charta das Subsidiaritätsprinzip. So sei etwa die Formulierung "religiöse Traditionen" von den Franzosen angefochten worden, da sie den Laizismus berücksichtigt sehen wollten. Nun heißt es in der englischen und französischen Version "spirituell", im Deutschen wäre dies aber missverständlich und wurde deshalb mit "geistig-religiös" übersetzt.
Politische Differenzen habe es vor allem um die Rechte von Minderheiten gegeben. Wegen des heftigen Widerstands von Seiten Frankreichs und Spaniens sei kein Artikel über die Rechte ethnischer Minderheiten enthalten, entschuldigte Neisser diesen Mangel.