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Wissenschafter und Börsenhändler ohne große Sorge. | Industrie hoffte auf Kurswechsel in Wirtschaftspolitik. | Frankfurt. Die deutsche Wirtschaft sieht im überraschenden Ausgang der Wahl in Deutschland ein Desaster. Wirtschaftswissenschaftler und Börsenhändler blieben dennoch gelassen.
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Mehr noch als die tapfer lächelnde Unionsspitzenkandidatin Angela Merkel schienen am Montag die Spitzenfunktionäre der Großindustrie über das Platzen der Blütenträume von der schwarzgelben Koalition in Deutschland entsetzt zu sein. "Wir sind bitter enttäuscht", hatte bereits am Abend des Wahlsonntags Jürgen Thumann vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) geklagt.
Angst vor der Mikado-Koalition
Der Präsident der Vereinigung, die sich für die Interessen der Großkonzerne einsetzt, war sich des Sieges von Union und FDP und damit eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels zu sicher gewesen. Eine große Koalition, wie sie nach Ansicht vieler Analysten nun bevorsteht, ist für Thumann dagegen ein Synonym für Stillstand: "Ein Bündnis von Union und SPD birgt das Risiko, dass es eine Mikado-Koalition wird: Der erste, der sich bewegt, hat verloren. Und das heißt, in Deutschland bewegt sich gar nicht mehr."
Wunsch nach Union im Führersitz
Andere Vertreter der Unternehmerschaft sind dagegen noch immer frohen Mutes, weil sie nach der Absage der FDP an die SPD eine Regierungsbildung unter Führung der Union erwarten. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Ludwig Georg Braun, zeigte sich offen für eine große Koalition oder ein Bündnis zwischen Union, FDP und Grünen. Der Spitzenvertreter der mittleren und kleineren Unternehmen wünscht sich die Union im Führersitz. Damit könne auch die Blockade durch den Bundesrat aufgehoben werden.
Ähnlich uneinheitlich war auch die Prognose der Volkswirtschaftsexperten. "Es wird nicht die erhofften großes Reformsprünge geben, sondern nur kleine Schritte", sagt Thomas Straubhaar vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut Deutschland schwierige Zeiten vorher. "Es wird auf eine große Koalition hinauslaufen", vermutet Klaus Zimmermann, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. "Das ist es auch, was das Land jetzt braucht: Eine große, breite Mehrheit für Wirtschaftsreformen."
Lange Unsicherheit am schlimmsten
Auch die Börse regierte nach außen gelassen auf den unerwarteten Wahlausgang. Nach einer Schrecksekunde am Morgen erholten sich die Dax-Kurse bis zum Börsenschluss wieder einigermaßen. Federn lassen mussten die großen Energieversorger EON oder RWE, deren Hoffnungen auf eine Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke schwinden. Umgekehrt profitierten die im TecDax gelisteten Aktien der Solarunternehmen Solarworld und Conergy, weil die Förderung erneuerbarer Energien nun wohl keine Abstriche erfahren wird.
"Politische Börsen haben kurze Beine", wiederholten die Börsianer zur Erklärung der unaufgeregten Reaktionen auf dem Parkett immer wieder. Ganz so unwichtig wird allerdings nicht sein, wie es politisch mit der größten Volkswirtschaft in Europa weitergeht. "Abwarten, wie die Angelsachsen in den nächsten Tagen reagieren", hieß es zum Wochenauftakt an der Frankfurter Börse. Einige Analysten glauben, der Abzug ausländischen Kapitals könnte dem zarten Pflänzchen der deutschen Konjunktur schon zu Herbstbeginn Frostschäden zufügen. Immerhin wird knapp die Hälfte der deutschen Aktien im Ausland gehalten.
"Alles ist nun möglich und niemand weiß, was kommen wird: Schwarz-rot mit Merkel, schwarz-rot mit Schröder, eine Ampelkoalition oder schwarz-gelb-grün. So viel Unsicherheit mögen die Märkte nicht", kommentierte ein Börsianer. Dabei scheint weniger die Farbgebung wichtig zu sein als der Zeithorizont. "Es sieht nach einer Hängepartie bei der Regierungsbildung aus - die schlimmste aller Varianten", warnt ein Analyst in Frankfurt.