Ein Drittel aller Unternehmen in Wien wird von Migranten gegründet.
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Wien. Ohne Migranten funktioniert die Wiener Wirtschaft nicht. Ein Drittel aller Unternehmen wird mittlerweile von Zuwanderern oder ihren Kindern gegründet. "Menschen mit Migrationshintergrund sind einfach risikofreudiger", meint Tülay Tuncel von Mingo, einem Serviceprogramm der Wiener Wirtschaftsagentur. "Den Schritt aus der Heimat, den haben sie bereits hinter sich, und ihr soziales Auffangnetz ist größer." In manchen Kulturkreisen sei der familiäre Zusammenhalt stärker.
Bei Mingo bekommen Unternehmensgründer und Jungunternehmer Beratung auf ihrem Weg in die Selbständigkeit. Immer öfter waren unter den angehenden Unternehmern auch Migranten. "Unternehmer mit Migrationshintergrund sind erst seit sechs, sieben Jahren sichtbar", berichtet Tuncel. "Vorher gab es noch keine gezielten Angebote. Die Menschen waren auf sich selbst angewiesen. Wir wissen nun aber aus Erfahrung, welche Problemstellungen es gegeben hat, und können mit unseren Angeboten gezielt darauf reagieren." Tuncel ist für den Bereich Mingo Migrant Enterprises (MME) zuständig, der speziell für diese Zielgruppe geschaffen wurde.
Häufig müssten sprachliche wie kulturelle Barrieren abgebaut werden. Je nach Kulturkreis könne es unterschiedliche Auffassungen von Unternehmertum geben. So seien zum Beispiel die Regeln der Buchhaltung verschieden: "In manchen Ländern ist Umsatz gleich Gewinn." Gerade in Österreich könnten solche Missverständnisse dramatisch ausgehen. Deshalb vermittle MME den Unternehmern, dass sie Rücklagen bilden müssen, um nicht nach dem dritten Jahr über Nachforderungen der Sozialversicherung zu stolpern.
Das Gründungscoaching wird in insgesamt zehn Sprachen angeboten. Die MME-Berater sind darüber hinaus mit dem Kulturkreis ihrer Kunden vertraut. So könne auch ein Vertrauensverhältnis zwischen Berater und Unternehmensgründer aufgebaut werden. "Es hilft auch dabei, Geschäftsideen besser zu analysieren und sie dort umzusetzen, wo Bedarf besteht", betont Tuncel.
Zwei Kunden aus der Türkei wollen etwa gerade ein Friseurgeschäft eröffnen. Sie könnten mit Erweiterungsideen punkten, zum Beispiel mit einem türkischen Hochzeitssalon für die Samstage. Andere nützen ihre Verbindungen in die Herkunftsländer. Eine angehende türkeistämmige Unternehmensgründerin hat einen Weg gefunden, ihre Kontakte zur Türkei zu nützen: Die Natursteine in der Türkei haben eine hohe Qualität. Heimische Bauunternehmer sind an ihnen sehr interessiert, zum Beispiel an Marmor.
Eine gebürtige Russin hat eine Werbeagentur gegründet. Ihr ist aufgefallen, dass deutschsprachige Werbungen ins Russische falsch übersetzt werden. Auch wenn sie selbst fließend Deutsch spricht, zieht sie es vor, auf Russisch beraten zu werden, weil sie sich da wohler fühlt. Kasra Seirafi, der Gründer von Fluxguide, hat 2011 den Mingo-Award für seine Unternehmensidee erhalten. Mingo hat ihn vorher bei der Gründung von Fluxguide beraten. Fluxguide ist ein multimedialer Guide für Ausstellungsbesucher, der im Gegensatz zu anderen Audio-Guides, auch Web 2.0. nützt.
"Nur mehr die Hälfte aller Menschen, die wir beraten, sind im Handel und Gewerbe tätig", erzählt Tuncel. Immer mehr steigen im Technologie- und Werbebereich ein. "Gerade viele junge Menschen wollen aus den klischeehaften Bereichen ausbrechen und gründen in zukunftsträchtigen Branchen."
Die Beratung von Mingo ist kostenlos. Zunächst setzt man sich in einem Orientierungsgespräch mit der Unternehmensidee auseinander. Danach folgt ein fünfstündiges Gründungscoaching. "Wir begleiten die Unternehmer bis zu fünf Jahre lang. Denn gerade in den ersten Jahren müssen große Hürden gemeistert werden", erzählt Tuncel. Darüber hinaus werden jährlich 150 ganztägige Workshops angeboten. Für die Bereiche Buchhaltung, Lohnverrechnung sowie Steuern und Abgaben gibt es auch MME-Workshops in fünf verschiedenen Sprachen. Ohne Übersetzungssituation könnten dort gerade die Schlüsselbegriffe gut vermittelt werden, betont Tuncel. Von den Chancen einer immer bunter werden Wirtschaft ist Tuncel überzeugt: "Die Wirtschaft lebt von der Vielfalt der Produkte und Dienstleistungen."
Mingo wird von der Wirtschaftsagentur und der EU finanziert. Die Wirtschaftsagentur gibt es bereits seit 30 Jahren. Sie vergibt Förderungen, bietet Services wie Beratung und Workshops an, und hat auch noch Immobilien, etwa in Aspern, dem größten Stadtentwicklungsgebiet Europas; diese Immobilien werden Unternehmen und Forschungseinrichtungen als Infrastruktur bereitgestellt.