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In Nordostpolen hat jeder Fünfte keinen Job, die gut Ausgebildeten gehen weg.
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Olsztyn. Im Sommer, wenn das Wasser dunkelblau glitzert und die Schilfhalme in der sanften Brise wackeln, kommen sie in Scharen. Die reichen und auch die nicht ganz so reichen Warschauer mieten dann ein Boot, um die versteckten Winkel der Masurischen Seenplatte zu erkunden, die meisten Hotels und Privatunterkünfte in der Region sind ausgebucht. Halb Polen, so scheint es, ist auf der Suche nach einem kleinen, privaten Stück Idylle im Nordosten des Landes gelandet.
Doch spätestens im November, wenn die morastigen Böden noch tiefer werden, als sie ohnehin schon sind, und der Himmel grau über dem flachen Land hängt, stehen die vielen neu errichteten Hotels wieder so gut wie leer. Die wenigen verbliebenen Rezeptionisten und Kellner stehen sich die Beine in den Bauch, mit den Touristen ist auch das Leben aus der dünn besiedelten Region verschwunden. Was geblieben ist, sind allerdings die Probleme. Die Woiwodschaft Ermland-Masuren, die abseits der Touristenorte und der größeren Städte von unverputzten Häusern und holprigen Straßen geprägt ist, zählt zu den ärmsten Provinzen Polens. Die Arbeitslosigkeit ist hier mit 22 Prozent nicht nur die höchste des ganzen Landes, sondern sie liegt auch knapp 120 Prozent über dem nationalen Durchschnitt. Einen Job zu finden, gilt als schwierig bis aussichtslos. Vor allem die Jungen und gut Ausgebildeten gehen daher weg, in die Hauptstadt oder gleich nach Großbritannien, wo die Gehälter ein Vielfaches der durchschnittlich 700 Euro ausmachen, die man hier bekommt.
Und dennoch - oder auch gerade deswegen - wird in der Woiwodschaft, die in vielen Bereichen die Probleme der an den Rändern Europas gelegenen Regionen versinnbildlicht, von blühenden Landschaften geträumt. Ermland-Masuren soll den Anschluss an prosperierende Regionen wie Schlesien oder Großpolen finden, in denen vor allem die Städte Breslau und Posen als Wachstumslokomotiven fungieren. Doch dafür werden dringend Investoren gebraucht, die Fabriken bauen und neue Arbeitsplätze schaffen. Seit einiger Zeit bemüht sich daher die Woiowodschaftsverwaltung in Kooperation mit den Kommunen und den bereits ansässigen Unternehmen, die Region als attraktiven Standort für Betriebsansiedelungen zu vermarkten. Potenzielle Investoren werden ebenso eingeladen wie ausländische Journalistendelegationen.
"Sehr wirtschaftsfreundlich"
Geworben wird dabei vor allem mit umfassenden Steuererleichterungen, Zuschüssen bei der Unternehmensgründung und den niedrigsten Lohnkosten in ganz Polen. "Wir sind in allen Bereichen sehr wirtschaftsfreundlich", sagt Bronislaw Mazurkiewicz, der Bürgermeister der 20.000-Einwohner-Stadt Dzialdowo, mit breitem Verkäuferlächeln. Unternehmer, die sich in seiner Kommune niederlassen, können mit großzügigen Rabatten bei der Grund- und Immobiliensteuer rechnen.

Zwei mittelständische Unternehmen der glasverarbeitenden Industrie nehmen bereits seit einigen Jahren diese Vorteile in Anspruch. Die deutsche Heinz-Gruppe produziert in Dzialdwo mit 400 Mitarbeitern 170 Millionen Glasverpackungen pro Jahr, vorwiegend Tiegel und Flakons für die Kosmetikindustrie, und kann auf eine konstant nach oben zeigende Geschäftsentwicklung verweisen. Seit 2001 hat sich der derzeit bei 25 Millionen Euro liegende Umsatz knapp verdoppelt. Nur wenige Kilometer davon entfernt bietet Dekorglass aufwendige Dekorationslösungen für Spirituosenflaschen und Parfumfläschchen an. Zu den Kunden des Unternehmens, das zu den europäischen Marktführen in diesem Bereich gehört, zählen unter anderem Absolut Vodka, Hugo Boss oder der Luxusartikel-Riese LMVH.
Noch deutlich mehr Steuerkosten können allerdings Unternehmen sparen, die sich in der auf 28 Standorte aufgeteilten Sonderwirtschaftszone Ermland-Masuren ansiedeln. Denn zusätzlich zu den von den Kommunen gewährten Erleichterungen bei der Grund- und Immobiliensteuer winken den Firmen hier die größten Körperschaftssteuererleichterungen aller 14 polnischen Sonderwirtschaftszonen. Abhängig von der Größe können Unternehmen hier Rabatte von 50 bis 70 Prozent in Anspruch nehmen, Voraussetzung dafür sind neue Investitionen in Höhe von zumindest 100.000 Euro oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Im Technologiepark der knapp 55 Kilometer von Danzig entfernten Stadt Elblag plant man dementsprechend für Großes. Im Herzen der lokalen Sonderwirtschaftszone steht hier seit kurzem ein riesiger Bürokubus aus Glas und Beton, von dem aus Betriebsansiedelungen begleitet werden sollen und in dem auch verschiedene Serviceeinrichtungen wie etwa chemische Labors oder Konferenzräume untergebracht sind. Anita Pawlak von der Unternehmerservicestelle der Stadt, die hier einen Vortrag über die Standortvorteile hält, wirbt zusätzlich zu den bereits bekannten Argumenten vor allem mit der Nähe zur russischen Grenze. Die Exklave Kaliningrad und damit ein Markt mit knapp einer Million Menschen ist weniger als eine Autostunde entfernt.
Einsam auf der grünen Wiese
Doch der Technologiepark Elblag, der zu einem Großteil über den 67,3 Milliarden Euro schweren EU-Regionalförderungstopf finanziert wurde, der Polen für die Periode 2007-2013 zugesprochen wurde, zeigt auch das Dilemma der gesamten Region. Zwar haben sich in den vergangenen Jahren mit ABB, Siemens oder dem polnische Möbelhersteller Wojcik mehrere Unternehmen in der Stadt niedergelassen, doch von den zahlreichen Betriebsgrundstücken, die rund um das Technologiepark-Hauptquartier aufgeschlossen wurden, sind die meisten leer. Der große Kubus thront einsam über der grünen Wiese.
Dass die Investoren trotz niedriger Lohnkosten und geringen Steuersätzen noch nicht so wirklich überzeugt sind, räumen selbst Vertreter der Woiwodschaft und der Sonderwirtschaftszone ein. Unter der Hand werden vor allem die noch immer schlecht ausgebaute Straßeninfrastruktur und die Abwanderung der höher Qualifizierten beklagt, die es im Vergleich zu anderen Regionen deutlich schwerer machen, Unternehmer anzulocken. Ein ähnliches Bild zeichnen auch die Zahlen der österreichischen Außenhandelsstelle in Warschau. Von den rund 600 heimischen Unternehmen, die in Polen tätigt sind, haben knapp 500 ihre Niederlassung in Warschau oder in Südpolen, in Ermland-Masuren ist als einzig größere Firma der Dämmstoff-Hersteller Isoroc vertreten. Auch Ernst Kopp, der österreichische Handelsdelegierte, sieht das Potenzial der Region auf gewisse Bereiche beschränkt. Entwicklungschancen gibt es seiner Meinung nach vor allem in der Agrarwirtschaft und stark automatisierten Sektoren, in denen nur wenige Fachkräfte gebraucht werden.
Jakub Smolinski, der in den weiten Hallen der Möbelfabrik Wojcik eine große Säge-Maschine mit Brettern füttert, arbeitet in so einer Branche. Doch für ihn ist weniger entscheidend, wer noch kommt, als wer schon da ist. Denn ohne die Möbelfabrik, die vor kurzem expandiert hat, hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Job. "Es ist sehr, sehr schwierig, hier Arbeit zu finden, weil es nur wenige große Unternehmen gibt", sagt Smolinski. "Viele meine Freunde und Bekannte suchen einen Job, doch sie können nicht weggehen, weil sie hier Familie haben."