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"Wirtschaftsliberale mögen nur hilflose Arme"

Von Michael Schmölzer aus Athen

Europaarchiv

Linksradikaler Philosoph ist Bestseller in Griechenland und unterstützt Tsipras.


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Athen. Es ist Krise in Griechenland, in den Geschäften herrscht Flaute, Nobelboutiquen klagen ebenso über Umsatzeinbrüche wie der einfache Trafikant um die Ecke: Die Reichen schränken ihren Konsum ein, der Mann auf der Straße raucht weniger, es werden immer seltener Fahrscheine gekauft, obwohl Benzin schwindelerregend teuer ist.

Die Buchläden sehen sich allerdings gestürmt wie eh und je: "Living in the End Times", ein Titel des wortgewaltigen Kultur- und Kapitalismuskritikers Slavoj iek, ist der Renner in der Sparte Philosophie. Das bestätigt zumindest die freundliche Verkäuferin im Buch-Tempel "Public".

"Alles was mit Wirtschaftskrise und Ökonomie zu tun hat verkauft sich derzeit sehr gut", meint sie. Auch Ratgeber der Marke "persönlicher Weg zum Erfolg" würden massenhaft Absatz finden. "Aber iek ist ein Top-Seller - nicht bei allen Käuferschichten, aber die Studierten lesen ihn viel, viel öfter als früher." In der großen Eleftheroudalis-Bücherei findet man ieks Werke ebenfalls ganz vorne im Regal.

Der slowenische Philosoph, Jahrgang 1949, schreibt nicht nur, er tourt auch durch die Weltgeschichte und meldet sich überall dort zu Wort, wo Leute gegen die Macht des Kapitals rebellieren. Er unterstützt die New Yorker Occupy-Bewegung genauso wie die linke Syriza in Griechenland.

Knapp vor den Parlamentswahlen ist er nach Athen gekommen, um Wahlwerbung für Alexis Tsipras, den 37-jährigen Spitzenkandidaten des Bündnisses aus Trotzkisten, Maoisten und Gewerkschaftern zu machen. Und um den Absatz seiner Bücher sicherzustellen.

Feindbild IWF und dessen Chefin Lagarde

Vor hunderten Syriza-Sympathisanten ergreift iek das Wort: "Die Frage, die sich jetzt stellt, ist: Was will Europa?", ruft er in die Menge. "Ihr wisst, was Ihr wollt: Diesen Kerl hier als Premier", lispelt iek ins Mikrofon und schlägt dem neben ihm sitzenden Tsipras wuchtig auf die Schulter. "Nur Häretiker wie Syriza können in Europa noch retten, was zu retten ist. Eure Gegner sagen, Ihr habt keine Regierungserfahrung. Aber alles was Euch fehlt, ist das Wissen, wie man ein Land in den Bankrott führt."

IWF-Chefin Christine La Garde ist für iek ein Rotes Tuch: "Sie hat gesagt, sie hat mehr Sympathie für arme Menschen in Afrika als für die Griechen. Die Griechen sollen sich selbst helfen und ihre Steuern zahlen. Man sieht: Die Wirtschaftsliberalen mögen die machtlosen Armen, die sich wie Opfer verhalten und auf die Barmherzigkeit der Reichen angewiesen sind. Ihr leidet, aber Ihr seid keine hilflosen Opfer. Ihr kämpft und Ihr wollt aktive Solidarität und Unterstützung in Eurem Kampf", poltert iek .

Die Rede verfängt bei den Zuhörern. Es sind mehrere hundert, die den großen Saal füllen, die bereitgestellten Sessel reichen längst nicht aus, viele drängen sich stehend in den hinteren Reihen. ieks Rede wird von Applaus unterbrochen, oft durch Gelächter. Auch Parteichef Tsipras lässt sich inspirieren. Bei der Abschlusskundgebung der Syriza am Donnerstag im Zentrum von Athen stößt er ins gleiche Horn wie der Philosoph. Man werde Griechenland seine Würde wiedergeben, ruft er in die Menge, eine neue Generation trete jetzt an, man sei kein Protektorat der EU. Auch hier Jubel, wenn auch verhaltener, denn niemand weiß, ob Tsipras im Fall eines Wahlsieges eine Regierung wird bilden können und ob er die Sparauflagen der Troika wirklich neu verhandeln kann, wie er das ankündigt. Trotzdem sind doppelt so viele Menschen zur Abschlusskundgebung erschienen wie vor den Wahlen am 6. Mai - sagen jedenfalls die Organisatoren.

Kampf gegen Korruption und Klientelismus

iek hat es leichter als Tsipras. Er ist Philosoph, der immer wieder betont, keine konkreten Rezepte zu haben. "Aber ich kann dabei helfen, die richtigen Fragen zu stellen", sagt er. Und er versteht es mindestens so gut wie Tsipras, sein Publikum zu begeistern: "Ihr seid keine gefährlichen Extremisten, wie es heißt, sondern Pragmatiker", ruft er. "Ihr seid keine Träumer, ihr seid die, die aus einem Traum erwacht sind, der sich in einen Albtraum verwandelt hat."

Europa, sagt iek, verhalte sich wie die Comic-Figuren Tom und Jerry. Die laufen über die Klippe und laufen weiter, ohne Boden unter den Füßen zu haben. Erst wenn die Comic-Figuren merken, dass sie in der Luft laufen, stürzen sie ab. "Ihr seid die, die die EU auf diese unangenehme Tatsache aufmerksam machen." Es sei ein harter, mühsamer und oft auch langweiliger Weg, mit Korruption und Klientelismus in Griechenland aufzuräumen, sagt iek. "Aber handelt jetzt, wartet nicht wie Eure Gegner von der kommunistischen KKE auf den richtigen Moment, denn der richtige Moment wird nie kommen."