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Wirtschaftsregierung: Ein Tabu, das keines mehr ist

Von Hermann Sileitsch

Analysen

Die Krise schafft sich fast von selbst ihre Institutionen: Für die globale Koordination der Krisenbekämpfung kristallisierten sich die G20, die zwanzig bedeutendsten Wirtschaftsnationen, als Forum heraus: ein Sinnbild der Kräfteverlagerung von den früheren G7 zu den Schwellenländern.


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Auch in Europa verschieben sich Machtverhältnisse. Die Neubewertung der Institutionen ergibt sich oft aus schierer sachlicher Notwendigkeit - und aus der Dringlichkeit der Probleme. Die Europäische Zentralbank in Frankfurt, die viele für unbeweglich gehalten hatten, erwies sich in der Reaktion auf die Euro-Krise als höchst flexibel - jetzt wird ihr gar vorgeworfen, auf Zuruf zu reagieren.

Merkel setzt sich durch

Ebenso klingt es spektakulär, wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind über eine "Wirtschaftsregierung": Das war für Berlin nämlich lange Jahre ein Reizwort. Wann immer beiderseits des Rheins gemeinsame Initiativen gestartet wurden, war Paris sofort mit diesem Begriff zur Hand und wollte den Keim einer europäischen Führungselite erkannt haben.

Für Nicolas Sarkozy war dabei völlig klar, dass die 16 Euro-Länder gemeint wären. Hintergedanke: Wenn sich diese auf eine koordinierte Politik verständigen müssten, ließe sich der deutsche Einfluss (unter anderem auf die Geldpolitik) abmildern. Für Berlin war das völlig indiskutabel.

Jetzt haben sich die Zeiten geändert. Es ist für Angela Merkel kein Tabubruch mehr, der Wirtschaftsregierung ihren Sanktus zu geben - aus mehreren Gründen. Erstens sind sich heute praktisch alle Ökonomen einig, dass die EU (und viel mehr noch die Eurozone als Währungsraum) eine abgestimmte Finanz- und Wirtschaftspolitik braucht, um gegenüber den Finanzmärkten geeint auftreten und Krisen somit effizienter bewältigen zu können.

Zweitens war die Runde der Staats- und Regierungschefs bei den akuten Hilfsmaßnahmen (wie den Griechenland-Krediten und dem Euro-Rettungsschirm) ohnehin schon ein unverzichtbares Gremium.

Und drittens: Auch wenn Merkel Sarkozy den begrifflichen Triumph gönnt, hat sie sich inhaltlich durchgesetzt: Als Wirtschaftsregierung versteht sie nämlich weiterhin ein Forum aller 27 EU-Mitglieder und nicht nur der 16 Euro-Staaten.

Parlament auf Barrikade

Die Kräfte, ohne die in Europa heute scheinbar nichts geht, sind Deutschland und Frankreich. Völlig außen vor sind die Briten, deren Isolation nicht mehr rein selbstgewählt ist. Es ist vor allem die Bewältigung der Euro-Krise, welche die europäische Integration vorwärts bringt - dass die Briten kein Euro-Mitglied sind, sperrt sie von wichtigen Entscheidungen aus.

Verlierer sind aber auch die anderen EU-Institutionen. In seltener Eintracht verkündeten die vier großen Fraktionen im Europäischen Parlament, das durch den Lissabon-Vertrag eigentlich gestärkt sein sollte, ihre "Kampfesbereitschaft" gegenüber dem Europäischen Rat: Sie wehren sich dagegen, dass die Staats- und Regierungschefs an der Kommission und dem Parlament vorbeiregieren.