Die Chronik eines scheinbar unlösbaren Konflikts biblischen Ausmaßes.
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Jerusalem/Ramallah/Wien. Es war im Sommer 2002, in Jerusalem explodierten Bomben in Bussen und Hotellobbys und der Compound von PLO-Chef Jassir Arafat in Ramallah wurde von der israelischen Armee belagert. Einige Büros lagen in Trümmern, kurz davor war dort gekämpft worden. Es war die Zeit der zweiten - von 2000 bis 2005 dauernden - Intifada, Gaza war damals von der israelischen Armee besetzt, die palästinensischen Siedlungsgebiete in der Westbank durch eine Vielzahl von israelischen Kontrollposten voneinander isoliert. Die israelische Bevölkerung hatte Ariel Sharon 2001 zum Premier gewählt, vor allem sein Versprechen nach mehr Sicherheit hatte ihm den Wahlsieg gebracht. Arafat stand in seinem teilweise zerstörten, Mukataa genannten Hauptquartier faktisch unter Hausarrest, er empfing dort aber ständig Diplomaten, internationale Delegationen und uns Journalisten. Die Situation war damals: Die Okkupation machte den Palästinensern das Leben zur Hölle und der palästinensische Terror bescherte den Israelis ein Leben in ständiger Angst.
Am gut befestigten Kalandia-Checkpoint, der Verbindung zwischen der West Bank und Jerusalem, war die Stimmung damals, im Sommer 2002, gereizt, die israelischen Soldaten lebten in ständiger Panik vor Selbstmordattentätern, Palästinenser klagten über die erniedrigende Behandlung durch die israelischen Uniformierten.
Es hat sich nicht viel geändert in den Jahren seither, erst am Donnerstag war ein 25-jähriger Palästinenser bei Zusammenstößen in Kalandia getötet worden, zudem gab es nach Angaben der palästinensischen Sicherheitskräfte 150 Verletzte.
Aber dennoch ist alles anders: 2005 zog sich die israelische Armee aus Gaza zurück, Dov Weissglass, Ariel Sharons éminence grise hatte einem Journalisten der israelischen Tageszeitung "Haaretz" die Motivation hinter dem Rückzug erklärt: Es gehe um das Einfrieren des Friedensprozesses. Und wenn man diesen Prozess einfriert, dann verhindert man die Errichtung eines Palästinenserstaats und unterbindet eine Diskussion über (das Rückkehrrecht der) Flüchtlinge, die Grenzen und (den Status von) Jerusalem." Und 2006 hatte Weissglass - wieder sehr freimütig - Israels Politik gegenüber den 1,8 Millionen Bewohnern von Gaza erklärt. "Die Idee ist, die Palästinenser auf Diät zu setzen, aber zu verhindern, dass sie verhungern."
Sharon wollte keine politische Lösung des Nahost-Konflikts, detto dessen Nachfolger Benjamin Netanjahu. Und man kann davon ausgehen, dass auch der Hamas der fragile und spannungsgeladene Status quo vor dem Ausbruch der offenen Feindseligkeiten zwischen der israelischen Armee und der Hamas durchaus recht war. Denn die Funktionäre der Hamas sind im Herzen Kämpfer und keine Kommunal-Politiker.
Doch nach dem Kidnapping und der Ermordung dreier junger Israelis am 12. Juni 2014 begann Israel - obwohl die Hamas, die sich sonst für jeden Raketenstart rühmt, die Verantwortung für diese Bluttat zurückgewiesen hat - hart zuzuschlagen und startete eine groß angelegte Aktion gegen die Hamas im Gaza-Streifen. Erklärtes Ziel: Infiltrationstunnel für Angriffe der Hamas auf israelisches Territorium und die Raketenwerkstätten in Gaza zu zerstören und die Kader der Hamas zu neutralisieren. Offenbar waren die israelische Armee (IDF) und die israelische Regierung von Anfang an gewillt, eine hohe Zahl ziviler palästinensischer Opfer in Kauf zu nehmen. Mehr als 800 Palästinenser sind seit dem Ausbruch der Kämpfe ums Leben gekommen. US-Außenminister John Kerry ließ seinem Ärger freien Lauf und sprach angesichts der hohen Zahl ziviler Opfer vor einem vermeintlich ausgeschalteten Mikrofon voller Sarkasmus von einer "mordsmäßig zielgenauen Operation" gegen die Hamas.
Im Zielgebiet der Hamas-Raketen
Im Frühling 2013 besuchte ich auf Einladung der israelischen Lobby- und PR-Gruppe EIPA (Europe Israel Press Association) die Grenze Israels zu Gaza, wo uns gezeigt wurde, wie die Waren, bevor sie in den Gaza-Streifen gelangen, genauestens untersucht werden - aus Angst, es könnten kriegstaugliche Materialien eingeschmuggelt werden. De facto liegt Gaza seit dem Bürgerkrieg 2007 zwischen der gemäßigten Fatah und der radikalislamischen Hamas, den die Hamas für sich entschied, unter einer israelisch-ägyptischen Blockade. Das brachte Israel die Kritik ein, Gaza zu einem Open-Air-Gefängnislager gemacht zu haben. Und EIPA brachte uns nach Sderot, eine 24.000-Einwohner-Stadt, die fast unmittelbar an den Gazastreifen grenzt und immer wieder das Ziel von Hamas-Raketenangriffen ist. In Sderot sieht man als Behelfsbunker gedachte Betonröhren auf den Kinderspielplätzen, bei Schulen, Spitälern und Amtsgebäuden wurden Splitterschutzdächer gebaut, die vor der Explosionswirkung der niedergehenden palästinensischen Kassam-Raketen schützen sollen.
In einem Schulgebäude trafen wir damals die 39-jährige Aanat Benami-Bernovski, die von der unmöglichen Situation erzählte, unter der die Menschen leben, von ihrer Angst vor Raketen und ihrer Angst, wenn das Klicken des Mikrofons über den städtischen Lautsprecher kommt und entweder eine harmlose Meldung ankündigt, oder Raketenalarm gibt. Benami-Bernovski erzählt von ihrer Arbeit mit verängstigten, traumatisierten, bettnässenden Kindern, aber auch von ihren Gedanken an die Menschen "auf der anderen Seite des Zauns": "Dort lebt eine Frau, die genauso wie ich ihre Kinder aufwachsen sehen will", sagte sie.
Der Bürgermeister der Stadt, David Buskila, der das Amt seit fünf Jahren ausübt, gab sich damals ähnlich nachdenklich: "Ich denke nicht nur an meine eigenen Kinder, sondern auch an die Kinder auf der anderen Seite", sagte er im Frühling 2013. Ich mache nicht die Menschen auf beiden Seiten für die Situation verantwortlich, sondern die politischen Führer", sagte uns damals Buskila. Und Buskila bemühte sich Jahre zuvor unter Vermittlung von Schweizer Diplomaten um ein Treffen mit dem Bürgermeister von Gaza, das aber nie zustande kam. "Wenn man hier hundertprozentige Ruhe haben will, dann kann man diese Ruhe nicht mit Waffengewalt erreichen, sondern die Politiker müssen sich an einen Tisch setzen und reden."
Und zum Zeitpunkt dieses Gesprächs war es vergleichsweise ruhig, nun regnet es Raketen auf Sderot und die Lage in Gaza ist völlig verzweifelt.
Aber wie kann man reden, wenn es längst kein Vertrauen, längst keine Gesprächsbasis mehr gibt zwischen beiden Seiten? Und wie kann man reden, wenn die Hamas das Existenzrecht Israels nicht anerkennt und der israelische Premier Benjamin Netanjahu alles unternimmt, um den Friedensprozess zu behindern. Denn erst vor drei Monaten scheiterte John Kerry mit seiner Vermittlungsmission und schob die Schuld hauptsächlich der israelischen Seite zu. Und als Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas als Reaktion auf das Scheitern der Gespräche eine Einheitsregierung mit der Hamas bildete, war ein Scheitern dieser Allianz eines der wichtigsten Ziele von Netanjahu. Zu dieser Zeit wurde eine Chance vertan: Die Hamas hatte es sich mit ihrer Unterstützung der Gegner von Bashar al-Assad nicht nur mit ihrem Sponsor Syrien verscherzt, sondern nach dem Sturz des Muslimbruders Mohammed Mursi in Kairo zog Ägypten die schützende Hand weg. Die Allianz mit dem ehemaligen Erzfeind Fatah von Mahmoud Abbas wäre eine Chance gewesen, die Hamas auf einen Verhandlungskurs einzuschwören.
Ein Offizier rattert eine Litanei an Gewalttaten herunter
Die EIPA-Pressetour führte uns dann mit einem Offizier der israelischen Armee auf einen Hügel im Westjordanland. Dort rattert er eine ganze Litanei an Angriffen durch palästinensische Militante herunter: "2001 ein Streit, gleich dort drüben, da wurde ein Israeli von einem Arabischen Bauern erstochen. Dann ein Angriff auf drei Schüler ein paar Jahre später, genau, dort unten im Tal, dann ein Anschlag auf einen Israeli gleich bei meinem Außenposten, genau, dort hinten. Und schließlich das Massaker im Dorf Ita Mar, wo im Jahr 2011 die Familie Fogel massakriert wurde." All diese Gewalttaten passierten an Orten, die man von diesem Hügel überblicken kann. Der Offizier spricht von Sicherheit, die der Grenzzaun gebracht habe und von Sicherheit, die die vielen Außenposten bringen sollen.
Doch auch der IDF-Offizier muss wissen - weiß -, dass es ohne eine politische Lösung keinen Frieden geben kann. Denn als in einer Siedlung im nördlichen Westjordanland, tief in einem Gebiet, in dem Palästinenser leben, einer der Gesprächspartner vom Versprechen des Gelobten Landes Judäa und Samaria spricht, dann erkennt man die schiere Unlösbarkeit des Problems. Wie können Menschen auf Land verzichten, das Gott versprochen hat, hört man dort.
Nun nach beinahe 20 Tagen Krieg in Gaza droht eine dritte Intifada. Eine Aussicht auf Frieden gibt es ebensowenig wie im Jahr 2002, bei meinem ersten Besuch im Westjordanland.
Nahost-Dossier