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Wissenschaft als Beruf

Von Max Haller

Wissen

Über Exzellenzförderung, Evalution, Emotion und andere existenzielle Fragen im Zusammenhang mit akademischen Karrieren. - Überlegungen zu fünf aktuellen Problemen im Anschluss an die Sichtweisen des Soziologen Max Weber.


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Im Jahr 1919 hielt der Soziologe Max Weber einen Vortrag zum Thema "Wissenschaft als Beruf". Seine zentralen Thesen lauteten: Wissenschaft ist ein hochqualifizierter Beruf, der hohes Verantwortungsbewusstsein und Kreativität erfordert. Wer Wissenschafter werden will, muss dies auch aus Leidenschaft tun; diese ist die Vorbedingung für Eingebung und Kreativität.

Einer der spektakulärsten Fortschritte im 20. Jahrhundert war zweifellos der Aufstieg der Frauen im Bildungssystem – aus der Sicht der Wissenschaft war er von bahnbrechender Bedeutung, wurde dadurch doch ein riesiges Potential an Kreativität erschlossen. Allerdings liegt der Anteil der Frauen bei Professoren erst bei knapp 20 Prozent.
© Foto: Uni Paderborn

Dies ist für Weber deshalb notwendig, weil wissenschaftliche Arbeit und Karriere ein "Hasard" sind: Man weiß im Vorhinein nie, ob aus einer Idee oder einem Projekt tatsächlich etwas herauskommen wird; und in keinem anderen Beruf dauert es so lange, bevor man endgültig anerkannt und beruflich abgesichert ist.

Diese Probleme haben sich heute - im Zeitalter der Entstehung eines neuen akademischen "Prekariats" - noch verschärft. Im Anschluss an Weber möchte ich im Folgenden fünf Themenkreise diskutieren.

1. Expansion und Spezialisierung der Wissenschaft und ihre Grenzen.

Extreme Spezialisierung ist das erste Kennzeichen moderner Wissenschaft, das Weber hervorhebt. Sie korreliert direkt mit ihrem Wachstum seit Beginn der frühen Neuzeit. Die Wissenschaft ist weit überproportional gewachsen. Die Zahl der Wissenschafter, der Pu-blikationen, der Patente und Erfindungen hat sich seit 1650 alle 15 Jahre verdoppelt - und wächst somit weit stärker als die Bevölkerung. Dasselbe gilt für die Zahl der wissenschaftlichen Disziplinen und Studienrichtungen.

Wachstum und Spezialisierung der Wissenschaft müssen sich also irgendwann abschwächen. Tatsächlich gehen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung seit 1990 in vielen Ländern deutlich zurück. Die Wissenschaft geht in einen steady state, einen Gleichgewichtszustand über, nicht zuletzt deshalb, weil das Wachstum selbst negative Effekte hat. Es gilt das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen, das hier besagt: Je mehr in einem Bereich schon bekannt ist, desto mehr Aufwand muss für neue Entdeckungen getrieben werden; die Zahl exzellenter Wissenschafter wächst langsamer als die Zahl der Wissenschafter insgesamt. Als Folgen des abnehmenden Wachstums sollen die begrenzten Mittel konzentriert, die Effizienz des Wissenschaftssystems erhöht werden.

Dies erfordert seinerseits, den Output zu bewerten und die Mittel auf erfolgsträchtige Einheiten zu konzentrieren. Es steigt der Druck auf die Forscher, mehr externe Mittel einzuwerben. Ein neues Zauberwort heißt "Evalua-tion" - mit der Folge, dass die Wissenschaftsbürokratie zunimmt und der Aufwand für die Erstellung von Gutachten, Performance Records und Peer Reviews steigt; ein "akademischer Kapitalismus" (Münch 2011) ist im Entstehen.

2. Sollen Exzellenzzentren oder kreative Einzelforscher und Gruppen gefördert werden?

Ist die Konzentration der Mittel tatsächlich der beste Weg, von Quantität zu Qualität zu gelangen? Hier ist die deutsche "Exzellenzinitiative" von Interesse. In deren Rahmen wurden in einem Evaluierungsverfahren 85 Universitäten und Forschungsinstitute ausgewählt, die fast zwei Milliarden Euro zusätzlich erhalten sollen, damit sie sich zu Spitzenforschungseinrichtungen entwickeln können. Die homepage der DFG bezeichnet diese Aktion als eine "Erfolgsgeschichte, die in kurzer Zeit vieles bewirkt hat".

Näher betrachtet, sieht die Bilanz allerdings weniger berauschend aus. Tatsächlich wurde "eine Fülle zukunftsweisender Konzepte" vorgelegt. Zwischen solchen Konzepten und der Realität besteht bekanntlich meist eine Kluft. Den Erfolg der neuen Exzellenzzentren kann man erst in zehn oder zwanzig Jahren beurteilen. Klar erkennbar sind hingegen schon jetzt die Schwächen dieser Aktion: Die Förderungen gingen großteils an Technik und Medizin; die Geisteswissenschaften gingen nahezu leer aus; zwei Drittel gingen nach Süddeutschland, ganz wenige in den Norden, keine in den Osten Deutschlands; das Gros der Universitäten und Forschungsstätten gewinnt nichts.

Empirische Befunde über die Arbeitsweise von Spitzenwissenschaftern liefern keine generelle Rechtfertigung für die neuen Leitlinien der Konzentration. Eine Studie über Nobelpreisträger zeigte, dass nicht große Forschungsorganisationen, sondern kreative Forscher und ihre Arbeitsgruppen am produktivsten sind (Haller, Wohinz, Wohinz 2002). Diese Wissenschafter haben oft nur ein bis drei, selten mehr als sechs Mitarbeiter. Mit diesen arbeiten sie jedoch intensiv zusammen.

Die Folgerung lautet daher: Man sollte vor allem produktive und kreative Forscher und Forschergruppen fördern, die es an jeder Universität gibt. Das kann zum einen durch Einrichtung von Stellen erfolgen, zum anderen durch eine massive Aufstockung der Förderung für kompetitive wissenschaftliche Grundlagenforschung. In Österreich gibt es sehr wenige Institutionen der Forschungsförderung und die wichtigste, der "Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung" (FWF), ist stark unterdotiert. Er muss selbst hervorragend begutachtete Projektanträge oft ablehnen, weil nicht genug Geld da ist.

Der Soziologe Max Weber (1864-1920) hielt 1919 in München einen Vortrag über "Wissenschaft als Beruf". Er neigte allerdings zur Selbstüberforderung, da er ein "workaholic par excellence" war.
© Archiv

Hier könnte auch von privater Seite wirksame Unterstützung kommen. So gibt es in Österreich mehr als 3000 steuerlich begünstigte Privatstiftungen mit einem geschätzten Vermögen von 60 bis 100 Milliarden Euro. Würden diese - wie es anderswo der Fall ist - nur einen Bruchteil ihrer Erträge der Wissenschaft und Forschung widmen, könnte damit sehr viel gemacht werden.

3. Erfordert leidenschaftlich betriebene Wissenschaft selbstzerstörerische harte Arbeit?

Leidenschaft ist eine Emotion, die bedeutet, dass man sich nicht nur rational, sondern mit seinem ganzen Wesen mit einer Sache identifiziert, sich über Erfolge unbändig freut, bei Misserfolgen fast verzweifelt. Emotionen spielen im Leben der Menschen eine zentrale Rolle; sie sind jene Kräfte, die erst zum Handeln anleiten. Auch Wissenschafter sind bei ihrer Arbeit keine "eiskalten Logiker"; selbst in Mathematik und Naturwissenschaften spielen Intuition, "ästhetische Sensibilitäten", wie etwa die "Schönheit von Gleichungen", eine wichtige Rolle, wie schon Einstein und Schrödinger bemerkt haben.

Leidenschaften und Emotionen haben aber auch negative Seiten. Wenn sie den Menschen übermannen, verliert er die Kontrolle über sich. Die Tendenz zur zeitlichen Ausuferung der wissenschaftlichen Arbeit kann zu großen Problemen führen. Die Lebensgeschichte von Max Weber selbst zeigte dies in dramatischer Weise. Der erst 33-jährige Professor wird von einer unerklärlichen Rastlosigkeit und Nervosität befallen; sie geht 1898 in eine schwere psychische Erkrankung über, die ihn schließlich zwingt, die Arbeit völlig aufzugeben. Ein Grund für diesen Absturz war Webers geradezu manische Arbeitswut. Er war ein workaholic par excellence.

In einer nicht weniger existenziellen Weise stellt sich das Pro-blem der Vereinbarkeit von Wissenschaft als Beruf mit dem privaten Leben heute noch viel häufiger. Ist die Wissenschaft eine "greedy institution", welche totale Hingabe fordert, neben der alles andere zurücktreten muss?

4. Ist der Beruf Wissenschaft unvereinbar mit Partnerschaft, Familie und Kindern?

Einer der spektakulärsten Fortschritte im 20. Jahrhundert war zweifellos der Aufstieg der Frauen im Bildungssystem - aus der Sicht der Wissenschaft war er von bahnbrechender Bedeutung, wurde dadurch doch erst ein riesiges Potential an Kreativität erschlossen. Um 1955 studierten in Österreich rund 3700 Frauen; dies war ein Anteil von knapp 20 Prozent an den Studierenden; um die Jahrtausendwende überholten die weiblichen die männlichen Studierenden. 2010/11waren fast 54 Prozent der 265.000 Studierenden weiblich.

Der Anteil der Frauen unter dem wissenschaftlichen Personal beträgt heute beim Mittelbau rund 40, bei Professoren knapp 20 Prozent. Verglichen mit dem Anteil der Frauen an den Studierenden ist dies zweifellos weniger. Auch im Berufsfeld Wissenschaft scheint es für Frauen eine "gläserne Decke" zu geben. Was sind die Ursachen dafür? Eine ist der time lag: Es dauert ungefähr ein Jahrzehnt, bis die Bildungsexpansion beim wissenschaftlichen Personal durchschlagen kann. Zeitlich gesehen steigt der Anteil der Frauen am wissenschaftlichen Personal kontinuierlich an. Außerdem ist schwer zu bestreiten, dass es noch bis vor kurzem zahlreiche offene und verdeckte Formen der Diskriminierung von Frauen gegeben hat. Inzwischen sind diese gesetzlich verboten; das UG 2002 enthält explizit ein Frauenfördergebot. Heute sind alle Universitäten bestrebt, ihren Frauenanteil zu erhöhen. Schließlich zeigen zahlreiche Studien, dass viele Frauen nicht nur weiterhin stärker familien-orientiert sind als die meisten Männer, sondern oft grundsätzlich andere Lebensauffassungen und Lebensziele verfolgen.

Schon von Kindheit an haben Jungen mehr Spaß an Wettstreit und Spitzenleistungen, neigen dazu, sich in eine Tätigkeit zu versenken, wie einseitig diese auch sein mag; Mädchen sind stärker auf Einfühlung und Harmonie, und - als Erwachsene - auf ein vielseitiger ausgerichtetes Leben hin orientiert.

Es gibt aber auch Tendenzen dahingehend, dass sich für Frauen (und Männer) mit Familie und Kindern keine unüberbrückbare Kluft zwischen engagierter wissenschaftlicher Arbeit und aktivem Familienleben auftun muss. Wissenschafterinnen sind zwar seltener verheiratet als ihre männlichen Kollegen, jene mit Kindern publizieren aber nicht weniger als solche ohne Kinder.

Rastlose Arbeit, Geschäftigkeit von früh morgens bis spät in die Nacht mag für Selbständige, Topmanager und Politiker nützlich sein. Für kreatives wissenschaftliches Arbeiten ist sie möglicherweise sogar abträglich. Als Folge der weiblichen Bildungsrevolution wird es immer öfters der Fall sein, dass verheiratete Frauen den gleichen oder sogar einen höheren Bildungsabschluss besitzen als ihre Partner. Die gestiegene Bildung und die Erwerbsteilnahme von Frauen werden zu einer weiteren Veränderung der geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Rollenbilder beitragen, die bisher die Sorge für Haushalt und Familie primär der Frau zugeschrieben haben.

5. Hat Wissenschaft einen letzten Sinn?

Wissenschaft ist ein zentrales Element der Moderne. Für sie ist die Idee des Fortschritts konstitutiv, das ständige Streben nach Verbesserungen der Lebensbedingungen. Der Fortschritt ist Teil eines universellen Rationalisierungsprozesses, einer "Entzauberung der Welt".

Hat dieser Prozess einen Sinn? Diese Frage verneint Max Weber. Keine wissenschaftliche Disziplin könne ihren eigenen Sinn begründen; so sei es in der Medizin sogar problematisch geworden, ob man die Erhaltung des Lebens und die Verminderung des Leidens als letzte, von allen geteilte Ziele bezeichnen könne.

Ich glaube, dass Weber hier zu pessimistisch ist. Vielleicht ist er allzu sehr durch Nietzsche beeinflusst worden. Aber wir finden bei ihm auch einen ganz anderen (An)Satz: "Interessen (materielle und ideelle), nicht Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: Die Weltbilder, welche durch Ideen geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen sich fortbewegte."

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse gehören zweifellos zu derartigen Ideen. Sie haben nicht nur unser Denken revolutioniert, sondern auch entscheidend zum Durchbruch der Aufklärung beigetragen. Dass die französische und amerikanische Revolution und - in ihrer Folge - die Vereinten Nationen 1948 die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" verabschieden konnten, war auch auf die Schriften von Sozialphilosophen und Staatswissenschaftern wie Locke, Rousseau und Montesquieu zurückzuführen.

Wissenschafter wie D. Meadows oder C. Reich haben zur Durchsetzung eines neuen Umweltbewusstseins beigetragen. Naturwissenschafter von Galilei über Darwin bis zu Sacharow wurden für ihre Überzeugungen aber auch angefeindet, verfolgt und vertrieben.

Mit ihren Prinzipien von Wahrheit und Offenheit, Pluralität und Toleranz sind Wissenschaft und Demokratie einander wesensverwandt. Es ist kein Zufall, dass Länder wie die Schweiz, die Niederlande und Schweden zu den wissenschaftlichen Top-Nationen gehören; genau diese drei Länder haben die feudalistischen Eierschalen von Hörigkeit und Leibeigenschaft schon in der frühen Neuzeit abgeschüttelt.

Zu dieser Zeit wurde durch Kaiser Ferdinand II. in Österreich eine dunkle Periode der Gegen-Aufklärung und geistigen Repression eingeleitet. Es ist dieses historische Erbe, das hierzulande im geringen Ansehen der Wissenschaft in der Öffentlichkeit nachwirkt - sowie auch in den parteipolitischen Einflüssen auf die Wissenschafts- und Forschungspolitik, die anderswo so nicht denkbar wären.

Unabhängige, kreative und kritische Wissenschafter haben es in Österreich vielleicht nicht immer leicht. Es sind aber immer sie, welche innovative Fragestellungen formulieren, die andere mitreißen und damit zu bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen beitragen. Die Wissenschaftspolitik sollte daher nicht aus dem Auge verlieren, dass es vor allem darauf ankommt, die Talente dieser Personen zu entdecken, zu entwickeln und zu fördern.

Max Haller, geboren 1947 in Sterzing (Ita-lien), ist Professor für Soziologie an der Universität Graz. Der Text basiert auf einem Vortrag, den er kürzlich in der Österrr. Akademie der Wissenschaften hielt.