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Wissenschafter widerlegen Sarrazin

Von Stefan Beig

Politik

Der Bestsellerautor hat ungenau gearbeitet. | Forscher orten bei Thilo Sarrazin mehr Bauchgefühl als Wissenschaft. | Wien. "Bis jetzt ist mir kein einziger wesentlicher Fehler nachgewiesen worden", erklärte kürzlich Thilo Sarrazin, der Autor von "Deutschland schafft sich ab". Deutschlands meistverkauftes Sachbuch des Jahres 2010 wird eben in 16. Auflage gedruckt, 1,2 Millionen Exemplare wurden an den deutschen Buchhandel ausgeliefert. "Sicher ist, dass ich in meinem Buch die Integrationsprobleme moslemischer Migranten in ganz Europa statistisch untermauert habe", betont Sarrazin weiter.


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Mit vielen Daten und Zahlen soll der frühere SPD-Politiker und mittlerweile entlassene Bundesbanker die Integrationsprobleme der Muslime "erstmals" aufgezeigt haben - wie auch Personen aus Politik und Medien erklärt haben. Die neuen "Erkenntnisse" des Volkswirts hätten endlich die Schieflagen ohne Beschönigungen beim Namen genannt. Doch bei einigen Soziologen herrschte Stirnerunzeln. Integration und Migration werden schon seit Jahrzehnten wissenschaftlich untersucht, und zwar ohne Scheuklappen. Freilich ziehen die meisten Studien nicht eine gesamte Bevölkerungsgruppe über einen Kamm, haben dafür aber anscheinend auch weniger Breitenwirkung.

Könnte es sein, dass Sarrazin einigen aus der Seele gesprochen hat, weil es halt so praktisch ist, wenn den eigenen Vorurteilen durch Zahlen der Anschein von Glaubwürdigkeit verliehen wird? Diesen Schluss legt eine neue 70-seitige Analyse nahe, die auf der Website des Forschungsprojekts "Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle (HEyMAT" zum Download bereitsteht.

Herausgebracht wurde sie von der Politologin und Sozialwissenschafterin Naika Foroutan. Gemeinsam mit anderen Kollegen von der Humboldt-Universität in Berlin stellt sie Sarrazins Aussagen Statistiken gegenüber, die sie dem Mikrozensus 2008 und 2009 und 20 Studien deutscher Forschungseinrichtungen zu Muslimen in Deutschland entnommen hat.

Die zentralen Ergebnisse: Sarrazin behauptet, dass sich speziell die Bildungssituation der Muslime in Deutschland nicht verbessert habe. Fakt ist: 42,4 Prozent der Türkei-stämmigen Deutschen hat eine höhere Schulbildung als ihre Eltern. Rund drei Prozent der ersten Generation türkischer Gastarbeiter hat eine höhere Schulbildung abgeschlossen, 22,4 Prozent sind es bei der jungen Generation. Gerade jene Gruppe, die Thilo Sarrazin als besonders lernunfähig darstellt, hat einen Bildungsanstieg von 800 Prozent.

Auch die von Sarrazin so oft strapazierte Pisa-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich Jugendliche mit Migrationshintergrund seit dem Jahr 2000 "substanziell verbessern", während "für Jugendliche ohne Migrationshintergrund kaum Kompetenzsteigerungen zu verzeichnen sind". Weitere zitierte Untersuchungen belegen einhellig, dass die Leistungsmotivation unter zugewanderten Familien sogar höher ist als bei einheimischen. Eine repräsentative Studie der Uni Mannheim hält fest: Türkei-stämmige Familien wünschen sich zu 80 Prozent eine Matura für ihre Kinder, doch das tun nur 74 Prozent aller Familien ohne Migrationshintergrund.

Richtig an Sarrazins Thesen ist, was schon vorher bekannt war: Die meisten muslimischen Zuwanderer stammen aus bildungsfernen Regionen in der Osttürkei - schließlich wurden sie ja als sogenannte "Gastarbeiter" einst für körperliche Arbeit hergeholt. Doch seine Kernthese, dass diese Schicht wegen ihrer Gene keine Aufstiegschancen habe, lässt sich nicht aufrecht erhalten. Im Gegenteil: "Bei sozial gleichen Ausgangsbedingungen wechseln Kinder aus Türkei-stämmigen Familien häufiger in anspruchsvollere Schulen als Kinder aus Familien ohne Migrationshintergrund."

Bildung ist in Deutschland kein muslimisches Problem

Ein speziell muslimisches Bildungsproblem lässt sich nicht ausmachen: 34,9 Prozent aller Christen mit Migrationshintergrund hat einen höheren Schulabschluss, 32,9 Prozent sind es bei den Sunniten und 43,5 Prozent bei den Schiiten. Sarrazin versteigt sich zur Aussage: "Von den in Deutschland lebenden Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund haben 30 Prozent überhaupt keinen Schulabschluss und nur 14 Prozent Abitur." Der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes ergab: 13,5 Prozent sind ohne Schulabschluss.

Auch gute Deutschkenntnisse sind bei Zuwanderern aus der Türkei von der ersten zur zweiten Generation klar gestiegen: bei den Frauen von 32,9 auf 70 Prozent, bei den Männern von 58,4 auf 83,5 Prozent. Die Häufigkeit Kopftuch tragender Frauen nimmt in der zweiten Generation ebenfalls signifikant ab, wie eine Studie im Jahr 2009 ergab. 70 Prozent aller muslimischen Frauen hat demnach noch nie ein Kopftuch getragen. 51,1 aller Kopftuchträgerinnen pflegen häufige Freundschaftskontakte zu Deutschen, 63,6 Prozent haben eine starke Verbundenheit mit Deutschland.

Schlicht geirrt hat sich Sarrazin wohl bei der Kriminalität: "In Berlin werden 20 Prozent aller Gewalttaten von nur 1000 türkischen und arabischen jugendlichen Tätern begangen." Der Berliner Polizeipräsident spricht von 8,7 Prozent der Gewaltkriminalität. Sarrazin war schlicht schlampig und hat vorschnell aus Korrelationen Kausalitäten macht.

Wer sind eigentlich die Leser des Sarrazin-Buchs? Laut einer von der "Süddeutschen Zeitung" in Auftrag gegebenen Studie sind sie vorrangig männlich und ganz besonders erfolgsorientiert.