Das Russland, das US-Präsident Obama besuchen wird, ist stolz und kämpferisch. Was man von den USA genau will, ist nicht so klar - außer der Wunsch, respektiert zu werden.
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Wenn Barack Obama für seine Reise nach Russland nächste Woche die Koffer packt, sollte er auch ein Exemplar von "Die Brüder Karamasow" einstecken. Denn das moderne Russland Wladimir Putins kämpft noch immer mit den gleichen politischen Widersprüchen, die Fjodor Dostojewski vor 130 Jahren aufgezeigt hat. Menschen tauschen ihre Unabhängigkeit leichten Herzens gegen Nahrung und Sicherheit, schreibt Dostojewski im "Großinquisitor", der die menschliche Freiheit durch "Wunder, Mysterien und Autorität" ersetzt.
Auch Putin hat dem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion traumatisierten Russland "Wunder, Mysterien und Autorität" gegeben. Aber obwohl das Land heute weniger frei ist als unter Boris Jelzin, ist Putin ungeheuer populär. Niemand wünscht sich die verrückte, freie und ungebundene Zeit des Übergangs zurück.
Das Russland, das Obama besuchen wird, ist stolz und kämpferisch. Was man von den USA genau will, ist freilich nicht ganz klar - außer der Wunsch, respektiert und ernst genommen zu werden.
In den USA denkt man an eine neue strategische Partnerschaft. Aber in Russland ist man misstrauisch, leckt noch die alten Wunden und hat das Gefühl, während der Zeit der Schwäche von den USA ausgenützt worden zu sein.
Diese Schnappschüsse habe ich diese Woche in Moskau bei einer Konferenz zur russischen Befindlichkeit zusammengetragen. Wieder und wieder beschrieben dabei russische Vortragende ein Land, das glücklich ist mit dem - wie ein Teilnehmer das nannte - "Soft-Autoritarismus" der Ära Putin, bei dem Antiamerikanismus zur politischen Grundhaltung gehört.
In den ersten beiden Tagen dieses Treffens kam Präsident Dmitri Medwedew so gut wie nicht vor, ganz im Gegensatz zu Ministerpräsident Putin. Obama wird mit beiden zusammentreffen. Klar ist aber, dass Putin die meiste Bedeutung hat. "Putin ist der Führer. Darüber sind sich alle einig. Seit Putin an der Macht ist, ist alles besser geworden", sagte ein Mitglied der russischen Duma. Putins politische Intuition beschrieb er so, wie man im 19. Jahrhundert über den Zaren sprach: "Was die Menschen brauchen, weiß Putin besser als sie selbst."
Putin ist der starke Mann, der das verletzte Russland nach dem Fall des Kommunismus neu aufgerichtet hat. Russland habe vom Chaos 1991 unverhältnismäßig große politische und soziopsychologische Narben davongetragen, erklärte Alexej Chesnakow, ein Putin-Berater.
Das moderne Russland sei noch immer voller Angst: Ein prominenter russischer Anthropologe sprach von "einer überhitzten, überlasteten Gesellschaft". Die Russen sind nervös und "laufen davon vor ihrer Freiheit", stellte ein führender Soziologe fest. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion sei Russland heute wie amputiert, sagte ein Professor für Stadtplanung: Es habe daher eine schreckliche Angst vor Leere.
"Wir wollen ebenbürtig sein. Wir wollen, dass unsere Interessen anerkannt werden. Wir wollen, dass sie als wichtig angesehen werden", bestätigte mir ein russischer Konferenzteilnehmer. Aber als teilnehmende Amerikaner nach konkreten Beispielen fragten, stellte ein prominenter russischer Politiker fest: "Das Problem ist, dass wir nicht wirklich wissen, was wir wollen."
Der Kreml-Berater Modest Kolerow brachte den Widerspruch auf den Punkt: Ohne sichere russische Führung würde es keine Freiheit geben. Mich erinnert das an Dostojewskis Großinquisitor. Ein anderer Berater Putins, ein Verleger, der bei der Organisation der Konferenz half, bestätigte diesen Eindruck: Die gegenwärtigen Probleme würden tatsächlich mehr als ein Jahrhundert zurückreichen: "Das ist seit der Zeit Dostojewskis ein russisches Thema."
Übersetzung: Redaktion