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Wladimir Putins Neustarthilfe für die Nato

Von Ronald Schönhuber

Politik

Vor zwei Jahren noch steckte die Nato in einer mittelschweren Existenzkrise. Die russischen Drohgebärden haben aber einen erstaunlichen Einigungsprozess in Gang gesetzt. Putins Versuche, die Allianz zu schwächen, wurden ins Gegenteil verkehrt.


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Als die Nato vor zwei Jahren in London den 70. Jahrestag ihrer Gründung beging, war niemandem so wirklich zum Feiern zumute. Nach knapp dreieinhalb Jahren Donald Trump war das westliche Verteidigungsbündnis ideell wie organisatorisch ausgelaugt, der fortwährende Parforceritt des damaligen US-Präsidenten mit Austrittsdrohungen, Alleingängen und verbalen Angriffen auf Bündnispartner hatte überall Spuren hinterlassen. Der "Hirntod"-Sager des französischen Präsidenten, den Emmanuel Macron kurz zuvor angesichts des nicht abgestimmten Vorgehens der Nato-Partner USA und Türkei in Syrien formuliert hatte, war fast nur noch die Schlusspointe gewesen.

Entsprechend groß war im Brüsseler Nato-Hauptquartier daher auch die Euphorie, als im Jänner 2021 mit Joe Biden ein Mann ins Weißes Haus einzog, der nicht nur als erklärter Transatlantiker gilt, sondern der auch gelobt hat, wieder auf Kooperation und Interessensausgleich zu setzen. Man schlage nun "ein neues Kapitel in den Beziehungen" auf, jubilierte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, als Biden im vergangenen Sommer auch in der belgischen Hauptstadt Station machte.

Plötzlich einstimmig

Für den Neustart der Nato dürfte der mittlerweile 79-jährige Demokrat allerdings weniger beigetragen haben als jener Mann, dessen Ziel es in den vergangenen Jahren eigentlich war, das westliche Verteidigungsbündnis zu schwächen und zu spalten. Denn mit seinen mit zehntausenden Soldaten untermauerten Drohgebärden in Richtung Ukraine hat der russischen Präsident Wladimir Putin einen unter anderen Umständen nur schwer vorstellbaren Einigungsprozess im Westen in Gang gesetzt.

So gab es in den vergangenen zwei Wochen fast keinen Tag, an dem nicht auf hochrangiger Ebene über die Ukraine-Krise beraten wurde. Am Montag tauschte sich etwa US-Außenminister Antony Blinken mit seine europäischen Amtskollegen aus, am späten Abend schalteten sich dann noch Biden, Macron, Stoltenberg der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, der italienische Regierungschef Mario Draghi, der polnische Präsident Andrzej Duda, der britische Premier Boris Johnson und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zu einer Videokonferenz zusammen, um über die Lage an der Ostflanke der Nato zu diskutieren.

Und anders als in vergangenen Jahren wird diesmal auch wieder mit einer Stimme gesprochen. Egal ob nun Biden, Johnson oder Macron vor ein Mikrofon treten, immer wieder ist mehr oder weniger gleichlautend von "massiven Konsequenzen und hohen wirtschaftlichen Kosten" die Rede, mit denen Russland im Falle einer Invasion rechnen muss. Selbst Olaf Scholz, der sich wegen der von Russland nach Deutschland führenden Gas-Pipeline Nord Stream 2 oft um klare Positionen gedrückt hat, findet mittlerweile deutlichere Worte in Richtung Russland.

Nato-Zustimmung steigt

Allein bei Worten will man es derzeit gar nicht einmal mehr bewenden lassen. So planen die Nato-Staaten bereits die Verlegung von Truppenkontingenten in östliche Mitgliedsländer, in den USA wurden parallel dazu 8.500 Soldaten in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. "Es gibt keinen Zweifel daran: Die Russen einigen die Nato rund um einen gemeinsamen Zweck", sagt Jamie Shea, ein einst ranghoher Nato-Mitarbeiter, der jetzt in der Brüsseler Denkfabrik Friends of Europe arbeitet gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. "Die Nato hat angesichts der Situation aber auch keine Wahl."

Für Putin, der unbedingt verhindern will, dass die Nato ihren Einfluss nach Osten ausdehnt, ergibt sich damit nicht nur das Dilemma, dass die Allianz durch seine Ukraine-Politik auf einmal zu neuer Geschlossenheit gefunden hat. Plötzlich ist ein Nato-Beitritt auch in Schweden und Finnland, die sich angesichts des russischen Säbelrasselns bedroht fühlen, ein Thema.

Noch mehr trifft das freilich auf die Ukraine zu, die nach Putins Willen niemals der Nato beitreten soll. Vor dem blutigen Maidan-Aufstand und der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 lag die Zustimmungsrate zur Nato in der Ukraine bei unter 30 Prozent. Infolge der russischen Einschüchterungsversuche ist der Wert inzwischen massiv gestiegen und liegt je nach Umfrage zwischen 50 und 60 Prozent. Putins Kampf gegen die Westorientierung der Ukraine scheint - zumindest was die Köpfe der Menschen betrifft - damit schon jetzt verloren.