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Wladimir Putins Phantomschmerz

Von Thomas Seifert

Politik
Jürgen Osterhammel: "Die Le-Pen-Putin-Achse ist evident, in Ungarn ist der Einfluss Russlands ebenfalls spürbar."
© Stanislav Jenis

Globalhistoriker Jürgen Osterhammel über die post-imperialistische Bürde Russlands.


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"Wiener Zeitung": Mark Twain soll einmal gesagt haben, dass die Geschichte sich nicht wiederholt, sich aber reimt.Jürgen Osterhammel: Eine gute Beobachtung.

Und wenn Geschichte sich denn reimt, welchen Rat hat die Geschichtswissenschaft dann für die Politik?

Wenn etwa ein Politiker oder eine Politikerin einen Philosophen um Rat fragt, dann kann der Philosoph der Politik sagen, was zu tun ist oder kann zumindest ethische Normen für viele Bereiche formulieren: in der biomedizinischen Ethik etwa oder bei humanitären Interventionen. Historiker sind eher Warner. Sie können aufzeigen, was man besser lassen sollte. Was schiefgehen könnte. Wo die Gefahren lauern. Historiker sind habituell konservativ und vorsichtig und greifen aus dem reichen Erfahrungsschatz der Geschichte meist jene Beispiele heraus, bei denen die Dinge weniger gut liefen.

Im Moment durchleben wir - zumindest in Europa - so eine Phase. Die Dinge laufen durchaus nicht so gut. Die Krim von Russland annektiert, Krieg in der Ost-Ukraine, die Beziehungen zwischen Russland und Europa erinnern an die Zeit des Kalten Krieges. Diesen Donnerstag erst hat der russische Präsident Putin Washington und Brüssel für die Malaise verantwortlich gemacht.

Das ist wohl die Bürde des Post-Imperialisten. Was nämlich zunächst als völlig unerwarteter Ausbruch von Archaik in der Politik erscheint, ist in gewisser Weise ein post-imperialer Verlust- oder Phantomschmerz und hat mit den Schwierigkeiten eines Imperiums zu tun, mit seinen eigenen Kontraktionen fertig zu werden. Das haben die anderen - vor allem die Europäer - schon hinter sich. Das ist jetzt für den russischen Präsidenten Wladimir Putin vielleicht ein schwacher Trost, aber dieser nicht kompensierte Kontrollverlust ist natürlich eine Erfahrung, die alle Großmächte im 20. Jahrhundert gemacht haben.

Erklärt das die kollektive psychische Erfahrung, in der Russland sich befindet, zwischen Schmerz, Trotz, Verletztheit und Aggression, wenn man das psychologisieren will?

Mit dem Psychologisieren sollte man, denke ich, vorsichtig sein.

Wir sind in Wien, in der Stadt Sigmund Freuds darf man das.

Auch für Wien gilt: Das Psychologisieren hat seine Grenzen. Aber einen wahren Kern hat die Interpretation. Der historische Vergleich bietet wieder ein interessantes Beispiel: Großbritannien. Dort hat der Verlust der großen Übersee-Imperien weder Krisen im Inland noch irrationale Verhaltensweisen in der internationalen Politik hervorgerufen. Die britische Außenpolitik ist aufgrund des Verlustes von Indien nicht plötzlich aggressiv geworden. Es gibt aber natürlich in dieser Parallele einen Faktor, der beide Ereignisse weniger vergleichbar macht. Die Briten haben ihr riesiges Imperium nicht von heute auf morgen verloren, wie das bei der Sowjetunion der Fall war. Diesen Faktor der Zeit-Stauchung der Verlusterfahrung sollten wir im Fall der Sowjetunion bedenken. Dennoch würde ich sagen, dass das Beispiel des Verlusts des Empire für Großbritannien zeigt, dass es keine Gesetzmäßigkeit gibt, dass eine frustrierte imperiale Macht - wie im gegenwärtigen Fall Russland - die Verlust-Erfahrung durch Aggression kompensieren müsste.

Sie haben Chinesisch studiert, gelten als einer der besten Kenner der chinesischen Geschichte im deutschen Sprachraum. Was ist das historisch Erstaunliche am rasanten Aufstieg Chinas?

Da stellt sich die Frage, wie weit man zurückblicken muss, um aktuelle Entwicklungen verstehen zu können. Meine Antwort ist davon geprägt, dass ich mich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt und ein Buch darüber mit dem Titel "Die Verwandlung der Welt" geschrieben habe. Sie könnten jetzt einwenden, dieser Titel ist insofern banal, weil sich die Welt immer verwandelt hat und im 20. Jahrhundert vielleicht sogar noch schneller als im 19. Jahrhundert, wenn man das irgendwie messen könnte. Es ist eine völlige Trivialität, dass nichts ewig ist. Die Geschichts-Soziologen sprechen von Hegemonial-Zyklen. Damals - im 19. Jahrhundert - wurden die ersten Prognosen eines pazifischen Zeitalters aufgestellt, allerdings hat man damals auf den Aufstieg Japans getippt. Der Transformationsprozess heute in Asien ist einer, der sich vor allem an Wirtschafts-Indikatoren ablesen lässt. Im Moment vielleicht sogar nur an Wirtschafts-Indikatoren.

Es gibt noch einen zweiten Hinweis, und das ist die zunehmende Orientierung der USA zum pazifischen Raum hin, dessen Anrainer sie aber schon immer gewesen sind. Es ist ja nicht so, dass die USA erst jetzt den Pazifik entdecken würden - die USA sind eine pazifische Macht und das ist den Amerikanern seit langem bewusst. So hat es für den Bau der Eisenbahn eine große chinesische Kuli-Migrationen nach Kalifornien gegeben. Die Beziehungen zwischen den USA und China gehen also weit in die Vergangenheit zurück, aber die Schwerpunktverlagerung nach Westen an den Pazifik ist deutlich zu spüren.

Von New York nach Westen ins Silicon Valley.

Genau. Die anschließende Frage wäre nun aber: Beobachten wir auch neue Strukturbildungen im pazifischen Raum? Und da ist irritierend, dass die chinesische Politik reine Machtpolitik alten Schlages ist. Es sind keine integrativen Strukturen im Pazifik in Sicht, wie wir das in Europa geschafft haben.

Sehen Sie für die Zukunft einen Einigungsprozess à la EU im pazifischen Raum?

Der chinesische Führer von 1978 bis 1997, Deng Xiaoping, hat eine außenpolitische Maxime hinterlassen, die erst jetzt in China wieder diskutiert wird. Er hat etwa gesagt: China kann nicht gegen, sondern nur mit Japan groß werden. Dieses Diktum missachtet die heutige Führung, weil sie auf scharfen Konfrontationskurs zu Japan geht. In Japan gibt es entsprechend rabiate Nationalisten, die das auf ihrer Seite auch so machen. Die Dinge schaukeln sich zwischen China und Japan also hoch - genauso wie zwischen China und Vietnam. Die vielen Konflikte im Südchinesischen Meer sehen heute eher peripher aus, sind aber ein Indiz für das Spannungs-Niveau in der Region. Von der Rivalität mit den USA erst gar nicht zu reden. Das pazifische Zeitalter ist also weniger die Geschichte des Aufstiegs einer Region als eine des kompetitiven Aufstiegs einzelner Akteure im pazifischen Raum mit China an der Spitze. Das Besondere an China ist, dass es bisher keine post-imperialen Misserfolgs-Erfahrungen gemacht hat. Rückschläge wie die USA in Vietnam, in Afghanistan oder im Irak hat China noch nicht erlebt. Daher denke ich, dass Europa trotz aller Probleme seit dem Zweiten Weltkrieg eine Erfolgsgeschichte ist. Europa ist die einzige Region der Welt, in der so etwas wie Supra-Nationalität entstanden ist. In Asien hat sich diese Integrationskraft nicht herausgebildet.

Sie hat aber auch in Europa nachgelassen. Seit 2008, seit der Weltfinanzkrise samt nachfolgender Eurokrise ist eine Renationalisierung der Politik zu erkennen, eine Stimmungsänderung gegenüber Europa in Deutschland und ein Vorrücken anti-europäischer Populisten.

Es gibt starke zentrifugale Kräfte, es ist aber vielleicht zu früh zu sagen, ob die EU am Scheitelpunkt ihres Lebens-Zyklus angekommen ist. Vergessen wir nicht die Rolle, die Russland dabei spielt. Die Le-Pen-Putin-Achse ist evident, in Ungarn ist der Einfluss Russlands ebenfalls spürbar. Dazu kommt der Versuch Russlands, seinen eigenen eurasischen Wirtschaftsverbund in Konkurrenz zur Europäischen Union zu schaffen. Das scheint im Moment am Energiepreis zu scheitern.

Es gibt offenbar Zeiten, in denen starke Führungspersönlichkeiten in der Politik gefragt sind - Beispiele: Wladimir Putin, Xi Jinping, Recep Tayyip Erdogan, Narendra Modi, Victor Orbán. In so einer Zeit scheinen wir zu leben. Ist das gefährlich?

In der EU gibt es derzeit keine starken Führungspersönlichkeiten, da sehe ich eher eine Atmosphäre der Hilflosigkeit vorherrschen sowie einen Mangel an Vertrauen und Zutrauen in die Problemlösungskapazitäten des politischen Personals. Die Frage, die sich etwa in der Ukraine-Krise stellt, lautet: Welche Seite agiert und welche Seite reagiert. Und da scheint es, als würde Russland agieren, Europa hingegen nur reagieren. Natürlich muss der Westen vorsichtig sein. Aber es ist nicht sehr beruhigend, wenn man als europäischer Bürger nicht weiß, ob es denn ein Spektrum von Plänen in den Schubladen der Politiker und Strategen gibt, in denen durchgespielt wird, wie man auf die verschiedensten denkbaren Aktionen Russlands reagieren würde. Dazu kommt, dass François Hollande keine verlässliche Stütze gegen Le Pen und die extreme Rechte in Frankreich ist. Dort haben wir also das gegenteilige Problem einer schwachen Führungspersönlichkeit. Wenn ich Ihnen jetzt also sage, "Ja! Sie haben recht! Überall nationalistische Führungsfiguren!", dann liest man morgen in der "Wiener Zeitung" die Schlagzeile: "Historiker warnt: Die Welt am Abgrund!".

Jürgen Osterhammel (geb. 1952 in Wipperfürth) ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz. Er ist einer der führenden Vertreter der Globalgeschichte und wurde mit dem Buch "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des
19. Jahrhunderts" einem breiten Leserkreis bekannt. Im Sommer wünschte Kanzlerin Angela Merkel sich Osterhammel als Laudator zu ihrem 60. Geburtstag. Er war auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen und des Renner-Insituts in Wien.