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Um ein Haar wäre anstelle der "schönsten Ecke Berlins" ein Hafenbecken entstanden, und Berlins Geburtsort wäre auf immer in den Gewässern der Spree versunken.
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Drehen wir das Rad der Zeit um 800 Jahre zurück und beobachten wir, wie sich deutsche Siedler aus dem Westen an den Ufern von Elbe, Havel und Spree niederlassen. Die überwiegend sumpfige oder sandige Landschaft, noch von slawischen Stämmen bewohnt, bietet den adligen Askaniern, den Bürgern und Bauern aus den Niederlanden, dem Rheinland und Westfalen eine neue Perspektive.
Links und rechts der Spree wachsen zwei kleine Siedlungen; Cölln hieß die eine, gebaut auf einer der trockeneren Flussinseln, die andere - gegenüber am rechten Flussufer - Berlin. Die beiden Orte wurden mit einer Brücke verbunden und bald zu einem Städtchen vereinigt.
Den Geburtstag Berlins kennt man eigentlich nicht genau, obwohl man 1987 das 750-Jahrjubiläum feierte; dafür aber den Geburtsort umso genauer. Man erkennt ihn auch heute noch von weitem. Und zwar am ältesten Bauwerk der Stadt, der Nikolaikirche, nach der das ganze Geviert benannt ist.
Prägte die asymmetrische Einturmfassade der gotischen Kirche bis ins 19. Jahrhundert das Bild Berlins, so überragen seit 1878 zwei spitze neugotische Türme die Skyline neben dem Roten Rathaus.
Die 750-Jahrfeier nahm die damalige DDR-Führung, auf deren Territorium das Kernstück der geteilten Stadt lag, zum Anlass, ein einmaliges städtebauliches Experiment zu wagen: Die komplette Rekonstruktion eines ganzen Stadtviertels, mitten im Zentrum. Die Pläne, einen Spreehafen anzulegen, wurden fallen gelassen.
Aus einer verwahrlosten Stadtbrache entstand in nur acht Jahren die Illusion einer Altstadt nach historischen Vorbildern. Was noch stand, wurde restauriert, die bis auf die Außenmauern zerbombte Kirche liebevoll restauriert und drum herum ein verwinkeltes Geflecht aus Gassen, schmalen Häusern und verträumten Winkeln geschaffen. Auf der fast quadratischen Fläche von rund 50.000 m² leben heute gut 2000 Einwohner in 800 Wohnungen. In 50 Geschäften wird Kostbares und Schnickschnack geboten: Plauener Spitzen, Miniaturbücher, Holzspielzeug aus dem Erzgebirge, deutscher Eiswein, Mode.. . Wer vom Shoppen schlapp ist, kann sich beim Schoppen (Viertelliter) in einer von 22 Gaststätten ausruhen oder etwas für die Bildung tun und die Kirche besuchen, die ein Museum beherbergt, im Knoblauchhaus Biedermeiereinrichtungen bewundern oder im Ephraim-Palais etwas über die Kunst- und Kulturgeschichte Berlins erfahren.
Apropos Ephraim-Palais: 1762 erwarb der Hofjuwelier Veitel Heine Ephraim das Grundstück der ältesten Apotheke Berlins und ließ dort ein prunkvolles Rokokopalais errichten. Freistehende toskanische Säulen sowie gekuppelte Pilaster geben der mehrgeschoßigen Fassade eine klare vertikale Gliederung, der die pyramidal gestuften Balkone mit ihren vergoldeten Gittern und die heiteren Putten eine zusätzliche dekorative Note verleihen. Das Palais galt im Volksmund schon früh als die "schönste Ecke Berlins".
Von Anfang an stand das Projekt "Nikolaiviertel" im Kreuzfeuer der Architekturkritik. Doch im Gegensatz zu manch hoch gepriesenen Geniestreichen moderner Städtebauer wurde diese künstliche Altstadt mit ihren lauschigen Nischen und ausgefallenen Geschäften vom Publikum sofort angenommen. Zunächst war es für DDR-Bürger eine Sensation, sowohl des erlesenen Warenangebots als auch des gepflegten Stadtbildes wegen. Seit der Wiedervereinigung bevölkern Heerscharen von Touristen diese putzige Illusion einer biedermeierlichen Altstadt.