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"Wo bleiben die Schutzkorridore?"

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Amnesty International wirft Militärkoalition mangelnden Schutz der Zivilbevölkerung vor.


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Bagdad. Die Verwundeten kommen im Minutentakt. Die eilig für sie aufgestellten Feldlazarette reichen nicht aus, um eine derart große Zahl zu versorgen. Wenn es geht, werden sie ins nächste größere Krankenlager weitergeschickt. Aber oft geht es eben nicht. Die Ärzte arbeiten auf Hochtouren. Viele Freiwillige sind dabei. Eine Frau schreit, dass dort hinten noch mindestens 50 Menschen im Geröll verschüttet liegen: "Frauen, Kinder, alte Menschen." Ganze Familien seien eliminiert worden. "Jetzt fressen die Hunde ihr Fleisch."

Die Szenarien spielen sich gerade in Mossul ab, Iraks zweitgrößter Stadt. Im Kampf um die Hochburg des Kalifats, das der Terrorchef Abu Bakr al-Bagdadi hier im Sommer 2014 ausgerufen hat, steigt die Zahl der zivilen Opfer drastisch an. "Sie sagten uns, man werde Sicherheitskorridore einrichten", schreit eine andere verzweifelte Frau. "Wo sind diese Korridore?"

Die hohe Zahl ziviler Opfer lässt vermuten, dass die an der Offensive in Mossul beteiligten Koalitionsstreitkräfte "keine ausreichende Vorsorge treffen, zivile Tote zu vermeiden", kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) in ihrem neuesten Bericht. Das sei ein "eklatanter Verstoß gegen internationales humanitäres Recht". Sowohl die Luftangriffe als auch die Gefechte am Boden hätten in den vergangenen Monaten zu einer erschütternden Zunahme ziviler Opfer geführt, so Amnesty.

Die Organisation dokumentiert, dass hunderte Zivilisten bei Luftschlägen in ihren Häusern oder an vermeintlich sicheren Orten getötet wurden. Die irakische Regierung habe sie zuvor aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben und nicht zu fliehen, wie Überlebende und Augenzeugen berichteten. Tatsächlich wurden am 17. Februar Flugblätter über dem Westteil der Stadt abgeworfen, in dem die Menschen zum Verbleib aufgerufen wurden. Die irakische Armee werde sie befreien, hieß es darin.

Die Offensive zur Rückeroberung von Mossul hatte Mitte Oktober mit Unterstützung der von den USA angeführten Militärkoalition begonnen. Nach der Einnahme von Ost-Mossul im Januar begann im Februar der Angriff auf den Westteil der Stadt. Dabei wurden bislang der Sitz der Regionalregierung, das Mossul-Museum und der Bahnhof zurückerobert.

Dem Aufruf, in ihren Häusern zu bleiben, seien viele gefolgt, sagen Hilfsorganisationen wie OCHA. Deshalb blieb die Zahl der Flüchtlinge in den ersten Wochen relativ überschaubar. 220.000 Menschen seien geflohen, die ohne Probleme in den für sie vorbereiteten Camps untergebracht und versorgt werden. Doch jetzt stehe man einer Flutwelle von Flüchtlingen gegenüber, derer man kaum Herr werde. Amnesty weiß den Grund: In zahlreichen Fällen hätten Überlebende und Nachbarn den Berichterstattern erzählt, dass sich IS-Kämpfer in zerstörten Häusern oder in benachbarten Gebäuden verschanzt hätten. Die Menschen seien an der Flucht gehindert und als "menschliche Schutzschilde" missbraucht worden. Da der IS immer mehr in Bedrängnis gerät, können die Menschen jetzt fliehen. Doch die verstärkten Luftangriffe der US-angeführten Koalition zerstörten Häuser samt den Familien darin. "Die Tatsache, dass die irakischen Behörden Zivilisten wiederholt geraten haben, in ihren Häusern zu bleiben statt zu fliehen, belegt, dass die Koalitionsstreitkräfte gewusst haben müssen, dass diese Angriffe wahrscheinlich zu einer erheblichen Anzahl ziviler Opfer führen würden", so Amnesty.

Die irakischen Truppen haben nun wegen der zuletzt hohen Opferzahlen ihre Angriffe unterbrochen. Aufgrund der Verluste unter der Zivilbevölkerung in der Altstadt würden die Vormarschpläne nun überarbeitet, sagte ein Sprecher. "Zurzeit finden keine Kampfeinsätze statt." Zuvor hatte das Kommando bekannt gegeben, am 17. März Angriffe auf jene Stelle im Viertel al-Jadida geflogen zu haben, an der mindestens 100, nach anderen Angaben sogar über 200 Zivilisten ums Leben kamen. Eine Auswertung der Angriffe habe ergeben, dass der Ort eines Luftschlages durch US-Flugzeuge mit jenem übereinstimme, an dem es zu den hohen zivilen Opferzahlen gekommen sei. Die Stelle sei auf Wunsch der irakischen Streitkräfte bombardiert worden, die hier IS-Kämpfer und Ausrüstung lokalisiert hatten.

Schon seit längerem zeichnete sich eine Kontroverse bezüglich des Vorgehens in Mossul ab. In Bagdad drängten die Generäle auf ein rascheres Vordringen, obwohl gerade der Westteil der Stadt besonders dicht besiedelt ist. Premier Haidar al-Abadi und die Amerikaner sprachen sich stets für ein behutsames Vorgehen aus. Doch die elitäre "Goldene Division", die speziell für den Anti-Terror-Kampf ausgebildet ist und die Speerspitze der Angriffe bildet, will schnelle Siege feiern, koste es, was es wolle. Hinzu kommt die Konkurrenz zur neuen Armada der schiitischen Glaubenskämpfer, die in den vergangenen Jahren entstanden ist: die Volksmobilisierungseinheiten, etwa 100.000 Mann, die mittlerweile Teil der staatlichen Sicherheitskräfte sind, ohne dem Befehl der Armee zu unterstehen. Sollte der Kampf um Mossul länger dauern, würden sie unweigerlich eingreifen. Das will die Armee verhindern.

Und der neue Mann im Weißen Haus scheint auch eine härtere Gangart zu befürworten. So ist seit Donald Trumps Amtsantritt die Zahl der zivilen Opfer bei US-Luftangriffen im Norden Syriens ebenfalls deutlich gestiegen. Allein in den vergangenen Tagen trafen US-Bomben einen Bauernhof, eine Bäckerei, eine Schule und eine Moschee. Der Informationsdienst "Airwars" hat seit Mitte Jänner 45 US-Luftangriffe mit rund 200 getöteten Zivilisten in Syrien gezählt: "Die Intensität der Angriffe 2017 ist beispiellos." 2016 kamen pro Monat im Schnitt 35 Zivilisten bei Luftschlägen im Irak und Syrien ums Leben. Unter Trump hat sich die Zahl vervielfacht. Laut der Zählung des Portals sind seit Januar mehr Zivilisten in Syrien durch amerikanische als durch russische Luftschläge getötet worden. Im Klartext heißt das, dass Trump sich zwar mehr im Kampf gegen den IS engagiert, die Kriterien bei der Auswahl der Ziele aber lockert und somit mehr "Kollateralschäden" in Kauf nimmt.