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Wo der Funke springt

Von Alexandra Grass

Wissen

Forscher: Der Lernprozess entsteht in den Zellfortsätzen und nicht in den Synapsen.


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Tel Aviv/Wien. Das menschliche Gehirn ist ein überaus komplexes Netzwerk von Milliarden Neuronen. Jede einzelne Nervenzelle kommuniziert dabei simultan mit tausenden anderen Neuronen über die sogenannten Synapsen. Seit dem Jahr 1949 waren sich Forscher darüber einig, dass der Lernprozess im Gehirn mit der Ausbildung dieser Synapsen in Gang gesetzt wird, während die Neuronen selbst praktisch als Rechenelement des Gehirns dienen. Diese Annahme haben Forscher der Bar-Ilan University in Tel Aviv in einer im Fachblatt "Scientific Reports" publizierten Studie allerdings nun ganze 70 Jahre später widerlegt.

Denn die unzähligen über den Alltag hinweg eintreffenden Signale an unsere Gehirnzellen werden über dünnste Verzweigungen eingefangen. Die Wissenschafter sprechen dabei von den Dendriten. Das sind Zellfortsätze von Nervenzellen, die vorwiegend dieser Reizaufnahme dienen. Trotz der Bedeutung dieser Dendriten für die Neuronen ist erst wenig darüber bekannt, wie sie wachsen, sich orientieren und verzweigen. Neue Daten würden allerdings darauf hinweisen, dass genau diese feinsten Verästelungen die Lernvorgänge anfeuern - ähnlich jenem Vorgang, der bis dato den Synapsen zugesprochen wurde, heißt es in der Studie.

Direkt angesteuert

Der israelische Hirnforscher Ido Kanter vom Department für Physik der Bar-Ilan University versucht mit einem Vergleich, das Arbeitsszenario in unserem Gehirn zu verdeutlichen: "Wie lässt sich die Qualität der Atemluft, die wir mit vielen, winzigen Sensoren über unsere Nase wahrnehmen, wohl besser messen?", fragt er. "Weit entfernt am Dach eines Hochhauses oder in unmittelbarer Nähe unserer Nase?" Zweiteres, meint der Forscher, denn je kürzer der Weg zu den Neuronen ist, umso effektiver kann die Arbeit erfolgen, schlussfolgert er.

Der neu entdeckte Prozess des Lernens entsteht demnach auch in viel höherer Geschwindigkeit als der bisher angenommene. Denn jede Nervenzelle wird über die Dendriten viel direkter angesteuert als über die Synapsen.

Die ursprüngliche Theorie stammte vom kanadischen Psychologen Donald O. Hebb. Mit der nach ihm benannten Regel hatte er 1949 das Lernen in neuronalen Netzwerken beschrieben. Je häufiger ein Neuron A gleichzeitig mit Neuron B aktiv ist, umso bevorzugter werden die beiden Neuronen aufeinander reagieren ("neurons that fire together wire together"). Hebb gilt als Entdecker des Modells der synaptischen Plastizität, welche die neurophysiologische Grundlage von Lernen und Gedächtnis darstellt.

Künstliche Intelligenz

Die neu skizzierten Lernvorgänge entstehen an verschiedenen Stellen im Gehirn. Deshalb bedürfe es auch einer Neueinschätzung gegenwärtiger Therapieansätze bei Menschen mit beeinträchtigter Gehirnfunktion. Hebbs Phrase "neurons that fire together wire together" müsste demnach neu formuliert werden, so die Wissenschafter. Die nun nötige Veränderung auf diesem Gebiet eröffnet auch neue Wege für die verschiedenen Arten des maschinellen Deep Learning. Die Künstliche Intelligenz basiert auf Anwendungen, die die natürliche Gehirnfunktion imitieren - allerdings mit weiterentwickelten Fähigkeiten und in wesentlich höherer Geschwindigkeit, betonen die Forscher in der Publikation.