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Wo die wilden Gräser blühen

Von Klaus Stimeder

Wirtschaft

Seit Beginn des Jahres ist der Besitz und Konsum von Marihuana in Kalifornien nahezu vollständig legal.


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Eigentlich hat die Sache mit dem Regen ja etwas Gutes nach über einem halben Jahrzehnt Dürre. Aber wenn es, so wie dieser Tage, ganz plötzlich und ganz heftig nass wird im Südkalifornischen, dann bringt das nicht nur für den angehenden Jungbauern so seine Probleme mit sich. "Gott sei Dank sind wir erst in der Vorbereitungsphase", sagt H., nachdem er aufmerksam den Wetterbericht im Autoradio verfolgt hat: "Sonst hätten wir jetzt ein richtiges Problem."

Während die Hand des Mittdreißigers am Steuer des Lieferwagens ruht, der den Pacific Coast Highway entlang braust, färbt sich der Himmel dunkel und öffnet eine Schleuse nach der anderen. Die Laune lässt sich H. dadurch nicht verderben. Seinen Namen in der Zeitung lesen will er auch nicht, gar nicht so sehr wegen ihm, aber wegen seiner Arbeitgeber: "Wir haben schon Monate vor der Abstimmung über die Legalisierung von Marihuana in Kalifornien begonnen, die Grundlage für unser Geschäft zu legen. Und das, was wir ,Unsere kleine Farm‘ nennen, soll, wenn’s klappt, nur den Anfang von etwas Größerem bilden."

"Unsere kleine Farm", eine Anspielung auf die Siebzigerjahre-Heile-Welt-Fernsehserie mit Michael Landon in der Hauptrolle, liegt rund eine Autostunde nordöstlich von Santa Barbara, am äußersten westlichen Rand der Welt. Es ist die rund vier Fußballfelder Grund umfassende nordamerikanische Version eines Sacherls, dessen Erzeugnisse seine neuen Besitzer und ihre Mitarbeiter reich machen sollen. "Das wird eine schöne Abwechslung zu unserem jetzigen Job", sagt H.: "Den Laden schupfen ist das eine. Aber richtig Gras-Bauer werden ist was ganz anderes."

Seit knapp über einem Jahr betreibt H. gemeinsam mit seiner Ehefrau im Herzen von West Hollywood, Los Angeles, einen sogenannten "Pot Shop": eine Ausgabestelle für Marihuana auf Krankenschein. Jeder, der ein entsprechendes Attest seines Arztes vorweisen kann - und das können mittlerweile Millionen Amerikaner -, kann sich hier ganz legal sein Marihuana kaufen.

Das Geschäft mit den Joints

Die Arbeitgeber von H. und seiner Frau leben auf der anderen Seite des Kontinents und schauen nur gelegentlich vorbei: Zwei gut situierte New Yorker Investoren mit Büros in Manhattan, die selber gern mal einen Joint rauchen, aber sonst ganz auf Profit getrimmt sind. "Sie sind weiß Gott nicht die Einzigen, die den Braten riechen. Aber nachdem sie uns beim Wirtschaften freie Hand lassen und die Idee sofort unterstützt haben, dass wir, wenn es mit dem Shop hinhaut, künftig unsere eigenen Produkte anbauen sollen, haben wir keinen Grund uns zu beschweren. Und seit des positiven Ausgangs der Abstimmung ist der Weg praktisch frei."

Mit rund 40 Millionen Einwohnern ist Kalifornien der mit Abstand bevölkerungsreichste Bundesstaat der USA und der wirtschaftlich wichtigste. Ohne die zwischen San Diego an der mexikanischen Grenze und der Hauptstadt Sacramento im Norden erwirtschafteten Steuergelder gäbe es in Alabama keine Straßen und in Wyoming keine Brücken; was die schon vor der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten bestehenden ökonomischen und politischen Gegensätze zum Rest der USA noch weiter verschärft.

Eines der Dinge, die im Schock der Wahlnacht des 8. November untergingen: Am selben Tag, an dem Trump seinen Sieg über Hillary Clinton feierte, sprach sich eine deutliche Mehrheit von wahlberechtigten Kaliforniern und Kalifornierinnen nicht nur gegen ihn (Clinton erhielt dort mit 8,8 Millionen fast doppelt so viele Stimmen wie Trump), sondern auch für die weitgehende Legalisierung von Marihuana aus.

Auch wenn dem "Golden State" in diesem Zusammenhang keine Pionierrolle zukommt - in den vergangenen Jahren haben bereits Alaska, Colorado, Oregon und Washington den Besitz und Konsum von Marihuana entkriminalisiert -, ist das eine kleine Revolution. Zum Vergleich: Man stelle sich vor, in der EU würde von heute auf morgen ganz Spanien oder halb Deutschland die Droge für legal erklären und "kalifornische Verhältnisse" schaffen. Die sich mittlerweile konkret so darstellen: Kaum noch ein Straßenzug im Zentrum San Franciscos, auf dem einem beim werktäglichen Spaziergang nicht das herbe Aroma eines "Pineapple Express" entgegen weht; kaum mehr eine Bushaltestelle in einem beliebigen Vorort von Los Angeles, neben der nicht mindestens einer den neuesten Strang "Blue Cheese" inhaliert; Alltag geworden die Tramhaltstelle in Downtown San Diego, an der die Nase permanent vom Duft der ungefährlichen Version von "Agent Orange" eingehüllt wird.

Noch ist es zu früh, um eine Ahnung davon zu bekommen, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn sie den Gebrauch einer Droge, die sie jahrzehntelang verteufelt hat, plötzlich für okay befindet. Zur Gänze von strafrechtlichen Konsequenzen befreit ist Marihuana auch an der Westküste der USA noch nicht. Als Obergrenze für den Besitz gelten in Kalifornien 28,5 Gramm (eine Unze), und bis auf Weiteres muss sich der Konsument, der mindestens 21 Jahre alt sein muss, immer noch eine Arztbestätigung holen, bevor er sich in einer der rund 1250 über den Bundesstaat verstreuten Verkaufstellen seine Dosis holen kann. Nämliche erwirtschafteten unter den alten Regeln, sprich bis Ende 2016, knapp unter drei Milliarden Dollar im Jahr. Konservativen Hochrechnungen von Marktforschern zufolge könnte das Volumen bis zum Jahr 2020 auf knapp unter sieben Milliarden steigen. Kaum einer dürfte sich darauf so gut vorbereitet haben wie H..

Hanf boomt

In den vergangenen Monaten hat er sich eine kleine Bibliothek mit Fachliteratur zum Thema Hanf-Anbau angelesen. Während sich Befürworter wie Gegner der neuen Boom-Wirtschaft über deren Für und Wider in den Haaren liegen, hat die mit der fortschreitenden Akzeptanz der Pflanze einhergehende Bewegung längst begonnen, die Alltagskultur im Land zu verändern. Anfang 2017 führt das vor elf Jahren (!) erstmals erschienene Buch "Marijuana Horticulture: The Indoor/Outdoor Medical Grower’s Bible" des Autors Jorge Cervantes die US-Bestsellerlisten in der Kategorie "Gartenbau" an.

Vorbei die Zeiten, als amerikanische Schriftsteller und Intellektuelle wie Truman Capote, Charles Bukowski, William S. Burroughs oder Hunter S. Thompson dafür gebrandmarkt wurden, wenn sie Gastbeiträge für "High Times" schrieben, dem 1974 gegründeten und bis heute berühmtesten publizistischen Fachorgans der Pro-Legalisierungs-Bewegung. Heute veröffentlicht eine Zeitung wie die "Los Angeles Times" regelmäßig Listen, in denen sie die "Zehn besten Gras-Bücher" anpreist und in denen Kapazunder wie T.C. Boyle ("Man sollte den Gebrauch aller Drogen entkriminalisieren, nicht nur Marihuana") für ihre Wortspenden zum Thema abgefeiert werden. Von den mittlerweile unzähligen Podcasts, Video- und verschriftlichten Blogs zum Thema ganz zu schweigen.

"Tabak war das große Ding des 20. Jahrhunderts. Hanf ist das große Ding des 21.", sagt H., während er über seine regennassen Felder spaziert und über die grüne Zukunft philosophiert: "Was die meisten Leute nicht schnallen, ist, dass die Revolution weit über das hinaus geht, was wir hier bald anbauen werden. Es gibt praktisch nichts, was man mit der Pflanze nicht machen kann: Das fängt bei Keksen an und geht bis zur Zahnpasta."

Freilich: Das Kerngeschäft von Leuten wie ihm wird trotzdem zuvorderst im Erzeugnis von Rauchzeug bestehen. Ob H. und seine Leute sich keine Sorgen machen angesichts dessen, was seit ein paar Wochen in Washington D.C. passiert? H.s Antwort überrascht: "Klar, als Jeff Sessions zum Generalanwalt ernannt wurde, haben wir zunächst ordentlich geschluckt. Aber ich glaube nicht, dass uns Trump in die Suppe spucken wird. Das Geschäft ist schon jetzt ein zu großer Wirtschaftsfaktor. Trump ist ein problematischer Charakter. Aber wenn er eines versteht, dann ist es die Sprache des Geldes. Und wenn er sieht, wie viel Geld Gras macht, glaube ich kaum, dass er oder seine Leute uns Prügel zwischen die Beine werfen werden."