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Als die US-Panzer im Stadtzentrum von Bagdad auftauchten, war klar: Das ist das Ende des Baath-Regimes
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Bagdad. Der Sockel am Firdous-Platz in Bagdad steht leer. Dort, wo am 9. April 2003 die Bronze-Statue Saddam Husseins umgekippt und damit symbolisch seine Herrschaft beendet wurde, ist nur noch der Betonstumpf übrig geblieben. Kurzzeitig zierte eine viel zu kleine, grüne, abstrakte Skulptur des namhaften irakischen Bildhauers, Bassem Hamad al-Dawiri, das Podest. Doch die öffentliche Kritik an dem Werk riss nicht ab. Als der Terror kam und die Bomben auch diesen Platz heimsuchten, war die Skulptur schnell verschwunden. Und solange die Iraker sich nicht einig sind, ob der Einmarsch der amerikanischen Truppen und der Sturz ihres Diktators eine Invasion, eine Befreiung oder eine Besatzung war, wird der Sockel wohl auch weiterhin leer bleiben.
"Für mich war es eine gut gemeinte Invasion", sagt Amal Ibrahim auf die Frage nach den Ereignissen vor zehn Jahren. "Aber es war definitiv eine Invasion." Gleichwohl hat die heute 43-jährige Schiitin von den Veränderungen enorm profitiert. Nachdem ihr Vater, ein Arzt, im Widerstand gegen Saddam von dessen Schergen ermordet wurde, hatte die Tochter keinerlei Chancen auf einen beruflichen Aufstieg im von Saddam-Loyalisten geprägten Regime. Jetzt arbeitet sie in verantwortungsvoller Position im Sekretariat des Ministerrates. Trotzdem sieht sie die Militäroperation "Freiheit für Irak" der "Koalition der Willigen" nicht als Befreiung. Man müsse das am Resultat messen. "Eine Befreiung sieht anders aus." Der Gradmesser dafür seien Anordnungen und Gesetze, die während der Besatzung von US-Administrator Paul Bremer erlassen wurden. Schon die Ernennung des ersten Regierungsrates isolierte die politische Klasse vom Volk. Die Politiker bekamen hohe Löhne und andere Privilegien. Damit sei das Ziel nicht das Land wieder aufzubauen, sondern sich selbst. Diese Gesetze hätten die Politiker in eine kritische Situation gebracht. "Ich weiß nicht, ob dies beabsichtigt war oder ob es sich so entwickelte?" Seit dem Abzug des letzten amerikanischen Soldaten Ende 2011 erlebt das Land eine politische Dauerkrise.
Der Irak hat harte Zeiten hinter sich: eine drei Dekaden währende Diktatur, drei Kriege, unzählige Revolten und ein strangulierendes, fast zehn Jahre währendes Embargo. Mit der US-Invasion 2003 wurde zwar Saddam Hussein gestürzt und die Diktatur zerfiel. Doch damit begannen Chaos, Plünderungen und Macht-Umverteilungskämpfe. Die Terrororganisation Al-Kaida setzte sich fest.
Ab Mitte 2006 schufen religiöse und politische Extremisten eine bis Anfang 2009 anhaltende Gewaltorgie. Schiiten massakrierten Sunniten und umgekehrt. Christen wurden ermordet und Kirchen brannten. Geiselnahmen, Raubmorde und Attentate machten das Land zur Hölle für Iraker wie für die ausländischen Truppen, für Mitarbeiter internationaler Unternehmen, der UNO und Hilfsorganisationen. Auf dem Gipfel der Gewalt sollen nach UN-Schätzungen monatlich bis zu 3000 Iraker ums Leben gekommen sein. Doch durch Mord, Flucht und Vertreibung haben sich Schiiten und Sunniten zunächst entlang scharfer Trennlinien sortiert. Massenweise wurde in Bagdad umgezogen. Aus vielen ehemals gemischten Bezirken sind ethnisch und religiös bereinigte Stadtteile geworden. Die Kämpfe ebbten allmählich ab. Die Terroranschläge wurden weniger.
Wenn Amal Ibrahim nach der Arbeit das schwer bewachte Regierungsviertel, das die Amerikaner "Grüne Zone" tauften, verlässt, weiß die Mutter von vier Kindern derzeit nicht, wie lange ihr Heimweg dauert. Sie muss die Brücke über den Tigris überqueren, um in die Palästina-Straße zu gelangen. Manchmal dauert es nur wenige Minuten, um von einem Flussufer zum anderen zu gelangen, zuweilen aber mehr als eine Stunde. Zwar wurden in den letzten beiden Jahren immer mehr feststehende Kontrollpunkte abgebaut, doch die sich wieder verschlechternde Sicherheitslage lässt die Sicherheitskräfte so genannte rollende Checkpoints eröffnen. Unverhofft und völlig willkürlich werden dann Autos durchsucht, die Identitätsnachweise der Insassen überprüft. Eine gewisse Nervosität der Staatsmacht ist momentan nicht von der Hand zu weisen.
Premierminister Nuri al-Maliki, dem gleichzeitig das Verteidigungs- und das Innenministerium unterstellt sind, gerät zunehmend von allen Seiten unter Druck. Keiner will mit ihm regieren. Fast täglich gibt es neue Rücktrittsbotschaften. Seine Regierung ist in Auflösung begriffen und Al-Kaida macht wieder vermehrt von sich reden. Koordinierte Anschläge der Terror-Dachorganisation "Islamischer Staat Irak", der neben Al-Kaida noch gut ein Dutzend weitere religiös geprägte Extremisten angehören, lassen manche Kommentatoren schon von der Gefahr eines erneuten Bürgerkrieges sprechen. In Bagdad, wie in 13 weiteren Provinzen Iraks, werden am 20. April Provinzwahlen stattfinden. Außerdem ist die Sechs-Millionen-Stadt in diesem Jahr Kulturhauptstadt der islamischen Welt - perfekte Ziele der Aufmerksamkeit für politisch motivierten Terror.
Flanieren im neuen Bagdad
Die Bagdader indes scheint dies nicht zu beeinträchtigen. Mit stoischer Gelassenheit nehmen sie die oft stundenlangen Staus hin oder gehen zu Fuß über die Tigris-Brücken. Während in den Anfangsjahren des Terrors die Straßen oft schon am frühen Nachmittag wie ausgestorben waren, weil die Menschen steif vor Angst zu Hause saßen, ist der Andrang in den belebten Stadtvierteln wie Karrada, wo auch der Firdous-Platz liegt, jetzt bis in die Nacht groß. An der als Park gestalteten Uferstraße Abu Nawas flanieren Familien unentwegt bis Mitternacht. Theater- und Konzertveranstaltungen sind gut besucht und auch die Restaurants können sich über einen Mangel an Gästen derzeit nicht beklagen. "Ja", sagt Amal nachdenklich, "an den Terror kann man sich gewöhnen oder zumindest lernen, damit umzugehen." Von ihrem 22-jährigen Sohn weiß sie, dass junge Iraker in seinem Alter durchaus die Freiheiten, die sie seit zehn Jahren genießen, mittlerweile höher einschätzen als den Verlust an Sicherheit. "Die jungen Leute haben heute ganz andere Möglichkeiten sich zu verwirklichen." Das Internet sei das Fenster zur Welt. Unter Saddam waren sogar Satellitenanlagen für Fernsehgeräte verboten. "Man kann heute sagen, was man will, treffen wen man will." Auch Reisen könnten sich mehr und mehr Leute leisten. Eine nicht repräsentative Umfrage des Ministerrates, Amals Arbeitgeber, hat herausgefunden, dass junge Iraker unter 25 den Einmarsch von Amerikanern und Briten vor zehn Jahren durchaus als Befreiung sehen.