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Wo Europa ein Schlaraffenland ist

Von Simon Rosner

Politik

"WM spiegelt nicht die Realität wider." | Die Endrunde könnte die Sehnsucht noch steigern. | Wien. Im Winter 2009 hat der deutsche Journalist Christian Ewers monatelang Afrika bereist. Er besuchte Südafrika, die Elfenbeinküste, Nigeria, Ghana oder auch Sansibar, wo der afrikanische Fußball seine Wurzeln hat. Seine Recherchen und Erlebnisse hat der "Stern"-Reporter in einem Buch festgehalten: "Ich werde rennen wie ein Schwarzer, um zu leben wie ein Weißer". Es ist ein Zitat von Samuel Etoo.


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"Wiener Zeitung": Wie viel von der afrikanischen Realität im Fußball sieht man denn derzeit als Zuschauer vor dem Fernseher ? Christian Ewers: Wenig. Die Wirklichkeit des afrikanischen Fußballs zeigt sich nicht während der WM, die atemberaubenden Stadien sind nur Blendwerk. Der Fußball in den Townships Südafrikas, die korrupte Liga in Ghana, kriminelle Spieleragenten in Kamerun - so sieht der Fußball in Afrika aus.

Stimmt es, dass auch die jungen Fußballer in Afrika über die Realität in Europa wenig Bescheid wissen?

Viele junge Spieler stellen sich Europa als Paradies vor. Als Kontinent der täglich neuen Chancen, auf dem jeder willkommen ist, auf dem man Karriere machen kann, wenn man nur hart genug an sich arbeitet. Europa wird glorifiziert. Das ist eines der Kernprobleme von Migration. Und für Fußballer ist Europa besonders funkelnd: Dort wird der beste Fußball der Welt gespielt, dort spielen Messi, Cristiano Ronaldo und Didier Drogba. Die Champions League übt einen gewaltigen Sog aus.

Sie sind monatelang durch Afrika gereist. Sind Sie dort auf große Neugier gestoßen oder wollen die Menschen gar nicht so genau die europäische Realität kennenlernen, um weiter träumen zu können?

Ehrlich gesagt: Die meisten wollten von mir nichts Negatives über Europa hören. Viele denken, man wolle ihnen Europa bloß ausreden, weil man nicht mit ihnen teilen möchte. In Afrika herrscht ein verzerrtes Europabild vor, und das ist kaum mehr zu korrigieren. Die elektronischen Medien und auch die häufig geschönten Berichte von ausgewanderten Afrikanern zementieren das Bild vom glücklicheren Europa.

Wird die WM diese Träume noch verstärken?

Ich fürchte. Plötzlich ist der europäische Fußball so greifbar nah, die Welt ist zu Gast, Grenzen scheinen sich aufzulösen.

Die Träume der jungen Spieler führen diese häufig ins Unglück. Ist der weitgehend freie Markt im Fußball Segen oder Fluch für Afrika?

Der Markt ist eher schwieriger geworden in den vergangenen Jahren. In Frankreich hat Sarkozy das Ausländerrecht verschärft; es ist sehr hart für einen afrikanischen Spieler, einen Job in der Ligue 1 zu finden, wenn er nicht einen erstklassigen Agenten hat. Ebenso England: In der Premier League müssen Afrikaner schon Nationalspieler sein, um eine Arbeitserlaubnis zu bekommen.

Sind diese Träume überall in Afrika zu finden, egal ob man nach Ghana, Nigeria oder Südafrika fährt?

Überall, ich habe noch nie so viele ManU-Trikots gesehen wie in Accra und noch nie so viele Chelsea-Trikots wie in Kapstadt. Die Sehnsucht nach einem besseren Leben in der Fremde ist die Sehnsucht eines ganzen Kontinents.

Wie groß ist das Wissen europäischer Vereine über Afrika, seine Fußballer, deren Kultur und Bedürfnisse? Hat sich das im Laufe der Zeit gebessert?

Es hat sich gebessert. Bis in die 90er Jahre glaubten viele Klubmanager, die Afrikaner bräuchten nur ein ordentliches Gehalt und eine schöne Wohnung, dann machen die schon ihre Tore. Tatsächlich aber hätten viele eine Art Ersatzvater gebraucht, jemanden, der sich um sie kümmert und ihnen Europa erklärt.

Es gibt einige positive Vorurteile gegenüber afrikanischen Fußballern. Eines davon ist die Spielfreude. Haben Sie diese auf Ihrer Recherchereise gesehen?

Und wie. Auf den Stränden von Sansibar zum Beispiel wird jeden Abend gekickt, bis die Sonne untergeht. Mit Bällen, die aus einem Knäuel zusammengeknoteter Lumpen bestehen. Oder in den Townships von Kapstadt: Mülleimer als Tore, 20 gegen 20, ein einziges Gewusel und viele schöne Tricks. Ich habe mich oft an den Rand gestellt und zugeschaut.

Ein weiteres positives Vorurteil ist, dass afrikanische Talente erfolgshungriger sind als europäische. Sie beschreiben, dass dieser Hunger die Spieler verleitet, nicht das beste, sondern das erste Angebot wahrzunehmen. Ist der Eindruck richtig, dass der Erfolgshunger eher karrierehemmend wirkt?

Es ist ein Balanceakt. Der Traum, es bis nach Europa zu schaffen, kann sehr motivierend sein. Er kann den Einzelnen aber auch erdrücken. Jedes Spiel, jede Trainingseinheit wird zum Kampf. Immer geht es um die Existenz. Der Glaube, nicht zu genügen in den Augen der anderen, keine faire Chance zu bekommen und das wenige Erreichte wie ein Löwe verteidigen zu müssen, dieses Gefühl der Minderwertigkeit wurzelt tief in Afrika.

Sie haben in St. Denis bei Paris ein Team gestrandeter Kicker besucht, wie sieht der klassische Weg dieser Spieler aus, bis sie dort landen?

Die dramatischen Geschichten sind die Geschichten der Namenlosen. Hinter jedem afrikanischen Top-Star stehen hunderte, wenn nicht gar tausende gescheiterte Spieler. Man kennt ihre Gesichter nicht und auch nicht ihre Geschichten, sie leben in der Illegalität, am Rande europäischer Großstädte wie Paris, Marseille oder Brüssel. Sie kommen mit einem Touristenvisum oder als Studenten und tauchen irgendwann in die Illegalität ab. Sie hoffen dann auf einen Erlöser, einen Manager, der sie doch noch in den bezahlten Fußball bringt.

Gibt es für Gestrandete, meist illegal lebende Spieler einen Ausweg, Hoffnung?

Die Tragik für viele afrikanische Sportler besteht ja nicht nur darin, als Fußballer zu scheitern, sondern auch darin, dass sie dann nicht mehr zurück nach Afrika können. Die Erwartungen der Familie sind immens, sie brauchen das Geld aus Europa, daher ist für die gescheiterten Fußballer eine Rückkehr ausgeschlossen. Gescheiterte werden geächtet, sie haben ihre Familie, ihren Clan, ihr Dorf enttäuscht. Wer zurückkommt, muss schon ein gemachter Mann sein.

Was müsste sich ändern, damit der afrikanische Fußball keine Tragödie mehr ist, wie der Untertitel Ihres Buches verheißt?

Bildung ist der Schlüssel. Aufklärung darüber, wie Europa wirklich ist, wie unbarmherzig es sein kann, gerade zu Migranten. Viele junge Afrikaner basteln sich ihr Europa-Bild aus Youtube-Schnipseln zusammen, und es sind leider nur die schönsten Bilder, die sie sich anschauen.

Christian Ewers: "Ich werde rennen wie ein Schwarzer, um zu leben wie ein Weißer - Die Tragödie des afrikanischen Fußballs." (164 Seiten, Gütersloher Verlagshaus, 18,95)