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Wo Gott die Hände einst einfroren

Von Harald Waiglein

Wirtschaft
Ein Gasbohrturm in der Nähe von Jamburg. Fotos: wai

Größtes Gasfeld der Welt liegt in Novy Urengoy. | Minus 60 Grad im Winter, Mückenplage im Sommer. | Gas in Österreich 50 Mal so teuer wie in Sibirien. | Jamburg/NovyUrengoy. "Es gibt in Sibirien eine alte Legende", sagt Larissa Kosenko, eine Lehrerin in der nordsibirischen Stadt Novy Urengoy. "Nachdem Gott die Erde erschaffen hatte, nahm er seine Gaben und flog über die Welt, um sie überall zu verteilen. Als er aber über Sibirien flog, froren ihm die Hände ein, sodass er alles fallen lassen musste, was er noch mit sich trug. Deshalb ist Sibirien so reich an Bodenschätzen und so reich an Erdgas."


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Wie reich Sibirien an Erdgas ist, lässt sich am besten an den Zahlen ablesen: Russlands Gazprom ist der größte Gaskonzern der Welt. Er produzierte im vergangenen Jahr 556 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Zwei Drittel davon - 370 Milliarden Kubikmeter - kamen von zwei westsibirischen Tochterunternehmen der Gazprom: "Yamburggazdobicha" und "Urengoygazprom". Zum Vergleich: In ganz Österreich werden pro Jahr etwa 9 Milliarden Kubikmeter Erdgas verbraucht. Mit nur einer Jahresproduktion der beiden westsibirischen Tochterfirmen könnte Österreich also für 41 Jahre versorgt werden.

Das Zentrum der westsibirischen Gasindustrie ist Novy Urengoy, eine Stadt mit etwa 110.000 Einwohnern. Hier wurde 1966 ein Gasfeld von 250 Kilometern Länge und bis zu 60 Kilometern Breite entdeckt. Die Lagerstätten liegen in vier Schichten übereinander; die unterste, die sogenannte "Achimov-Schicht", die derzeit erst erschlossen wird, liegt bis zu 4000 Meter tief.

Das größte Gasfeld

Bis heute ist Urengoy das größte Gasfeld der Welt. Ursprünglich umfasste es 10 bis 12 Billionen Kubikmeter. Etwa 60 Prozent davon wurden seit Beginn der Förderung im Jahr 1978 bereits verbraucht.

Der Höhepunkt ist überschritten; nun bemüht man sich um die Erschließung neuer Lagerstätten - unter anderem in der "Achimov-Schicht".

Vor einigen Jahren war "Urengoygazprom" der unangefochtene Platzhirsch unter den Gazprom-Töchtern. Doch seit kurzem wird es bei der Produktion von "Yamburggazdobicha" übertroffen. Das Unternehmen, dessen Hauptförderzentrum in Jamburg, etwa 300 Kilometer von Novy Urengoy und 200 Kilometer nördlich des Polarkreises liegt, produziert derzeit 42 Prozent der gesamten Gasmenge der Gazprom.

Jamburg darf man nur auf besondere Einladung der Gazprom besuchen. Für gewöhnliche Reisende ist das Gebiet gesperrt. Wer es nach Jamburg schafft, dem bietet sich folgendes Bild: endlose, flache Eiswüsten, immer wieder durchschnitten von silbernen Pipelines. Vereinzelte Baumgerippe wechseln einander mit Bohrtürmen ab. Dazwischen liegt die eine oder andere Gasbereitungsanlage wie ein grauer, rechteckiger Steinquader in einem gefrorenen See.

Minus 62 Grad

Jewgeni Viktorowitsch Pewnew arbeitet in dieser Eiswüste an einem Bohrturm, der etwa eine halbe Flugstunde mit dem Hubschrauber von Jamburg entfernt liegt. Er soll mit seinem Team eine Testbohrung bis in 3900 Meter Tiefe vornehmen. "Im Jänner 2006 hatten wir hier minus 62 Grad", sagt er. "Das war schon hart."

Trotzdem hat Jewgeni den Winter lieber als den Sommer. Sobald der Permafrostboden nämlich auftaut, versinkt in Jamburg alles im Sumpf. Theoretisch sogar die Häuser: Alle Gebäude werden deshalb auf Stelzen gebaut. Dann fällt ein Heer von Insekten über die Arbeiter her. Eine besonders unangenehme Art, erzählen die Einheimischen, sei die "Maschka" - eine Art Mücke, die aber kein Blut saugt, sondern in Krägen und unter Ärmel krabbelt, um dort Löcher in die Haut zu fressen. Kein Wunder, dass die sibirische Kälte dagegen noch angenehm erscheint.

Die Gazprom lockt mit guter Bezahlung und Sozialleistungen. Ein Facharbeiter verdient in Westsibirien im Durchschnitt 2000 Euro brutto im Monat. Das entspricht dem Vier- bis Fünffachen des russischen Durchschnittslohns. In Jamburg, wo etwa 15.000 Arbeiter wie auf einer Bohrinsel im Schichtbetrieb an- und abreisen, gibt es fast jeden erdenklichen Komfort: eine gut ausgebaute Bibliothek, in der täglich 22 aktuelle Zeitungen aufliegen, Fitnessräume, eine Sporthalle, ein Kulturzentrum mit Konzertsaal und sogar eine eigene Brauerei (siehe Artikel unten).

Keine Angst vor Frost

Für die Kinder von Gazprom-Beschäftigten stehen Betreuungseinrichtungen zur Verfügung, die besser ausgestattet sind als die meisten Wiener Kindergärten. In einem davon in Novy Urengoy findet man ein kindergerechtes Schwimmbad, eine Sauna, eine mit einer Ärztin besetzte Krankenstation, jede Menge Spiel- und Kletterräume sowie einen eigenen, auf dem letzten Stand der Technik ausgerüsteten Theater-Saal. Dort singt der Gazprom-Nachwuchs dann Besuchern Lieder wie dieses hier vor: "Der Frost beißt uns in die Nase, aber wir haben keine Angst, denn wir haben Gas. Gut, dass Russland so viel Gas hat."

In Jamburg gibt es keine Kinder. Dafür aber jede Menge Sport: Die beliebtesten Sportarten hier sind Karate und Snowmobil-Rennen. In beiden Kategorien haben die Mannschaften von Jamburg bereits russische Meisterschaften gewonnen. Jewgeni, der zu weit entfernt von Jamburg arbeitet, um die Einrichtungen zu nutzen (die Arbeiter am Bohrturm wohnen in Containern direkt neben dem Arbeitsplatz), kann den typischen Freizeitbeschäftigungen allerdings nichts abgewinnen. Auf die Frage, was seine Leute nach der Arbeit am liebsten tun, sagt er: "Ausrasten. Und Fernsehen."

Teures Gas

Etwa eine Woche dauert es, bis das Gas aus Jamburg oder Novy Urengoy durch die Pipelines in die österreichischen Haushalte kommt. Während dieser Zeit legt es nicht nur etwa 5000 km zurück, sondern verteuert sich auch deutlich.

Die Produktionskosten für einen Kubikmeter Gas liegen in Jamburg bei 1,3 Cent. Ein österreichischer Haushalt zahlt für diesen Kubikmeter inklusive Transportkosten, Steuern und Abgaben zwischen 60 und 74 Cent.

Die Gazprom verrechnet ausländischen Abnehmern seit jeher deutlich höhere Preise als russischen Kunden. So wird das Gas für russische Haushalte vom Westen subventioniert. Bis 2011 soll laut einem Beschluss der russischen Regierung mit dieser Praxis allerdings Schluss sein: Nächstes Jahr sollen die Gaspreise in Russland um 25 Prozent, 2009 um 20 Prozent und 2010 noch einmal um 28 Prozent angehoben werden. Ob die Regierung das durchhält, ist allerdings fraglich: Billiges Gas gilt in Russland als eine Art Grundrecht. Wer immer dieses Grundrecht abschaffen will, muss mit größeren Unruhen rechnen.