In der Leopoldstadt liegt ein blauer Wahlsprengel neben einem grünen. Ausgerechnet im roten Arbeiterbezirk beginnt bei der wiederholten Bezirksvertretungswahl am 18. September der Testlauf für das Rennen um die Hofburg. Ein Besuch an der Grenze.
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Wien. Grenzen sind so eine Sache. Mancherorts teilen sie die Welt in die einen und in die anderen. Mancherorts hingegen geht das eine nahtlos in das andere über. Unauffällig. Unbemerkt. Unspektakulär. Die Wolfgang-Schmälzl-Gasse im Stuwerviertel in der Leopoldstadt ist so eine Grenze. Nichts weist auf ihren Trennungscharakter hin. Hier wie da alte Zinshäuser, dunkle Tschocherl und türkische Greißler. Hier wie da junge Väter, die ihre Kinder am Fahrradsitz nach Hause kutschieren. Hier wie da junge Mütter, die ihre Léonies dazu anhalten, sich konstruktiv in die eigene Freizeitgestaltung einzubringen. Hier wie da alte Männer, die den Kolonnen von Frauen nachtrauern, die früher hier ihre Runden gedreht haben. Und hier wie da alte Frauen, die sie dafür verurteilen.
Sie wissen nicht, dass sich auf ihrer Gasse - genau genommen dem unteren Abschnitt zwischen Yppsstraße und Stuwerstraße - eine Grenze befindet. Anfangs war es nur eine administrative Grenze, höchstens interessant für die Beamten der Magistratsabteilung 62, zuständig für Wahlangelegenheiten. Es war die Grenze zwischen den Sprengeln 56 und 57. Seit 11. Oktober 2015 ist das anders. Seit den vergangenen Bezirksvertretungswahlen befindet sich hier auch eine politische Grenze, jene zwischen der grünen und der blauen Welt.
29 Prozent der Wähler haben im Sprengel 56 der FPÖ ihre Stimme gegeben und sie so zum politischen Platzhirsch zwischen Wolfgang-Schmälzl-Gasse und Max-Winter-Platz gewählt. Auf der anderen Seite der Grenze, hin zur Venediger Au, im Sprengel 57, haben sich 30 Prozent der Bewohner für eine grüne Enklave entschieden. In absoluten Zahlen sind es Peanuts. 65 Stimmen für das blaue Wunderland. 74 Stimmen für das grüne Boboville.
Dunkle Flecken sind diese Sprengel für den roten Bezirksvorsteher Karl-Heinz Hora. In beiden Fällen ist die SPÖ nach dem 11. Oktober auf den zweiten Platz gerutscht. Die Differenz ist minimal. Im blauen Sprengel liegt sie bei acht Stimmen, im grünen gerade einmal bei einer Stimme. Kein Grund zur Aufregung also. "Hätte man die Wahlkarten dazugezählt, wären auch die Sprengel rot geworden", gibt sich Hora überzeugt.
Trotzdem, die grüne und die blaue Insel inmitten des roten Meeres bereiten Hora Kopfzerbrechen. Schließlich waren es nur ein paar Stimmen, die den Verfassungsgerichtshof dazu bewogen haben, das Ergebnis aufzuheben und die Wahl wiederholen zu lassen. Die grüne und blaue Opposition weiß den wiederholten Wahlgang am 18. September für sich zu nutzen. Für sie ist es ein Testlauf für die Präsidentschaftswahl am 2. Oktober zwischen dem Kandidaten der Grünen Alexander Van der Bellen und dem Freiheitlichen Norbert Hofer.
"Ich hoffe, dass sich ein paar Leute beim vorigen Wahlgang abreagiert haben und jetzt zu Hause bleiben", sagt Petr Kudelka über den wiederholten Präsidentschaftswahlgang.
Keine Ausflüge in die andere Gesinnungswelt
Der Jurist sitzt vor seiner Wohnung im Garten in der Venediger Au, mit dem Blick auf den Kinderspielplatz unmittelbar vor dem Prater. Vor drei Jahren hat der 30-Jährige gemeinsam mit den Nachbarn den verwilderten Grünstreifen vor dem Gründerhaus zu einem Gemeinschaftsgarten umgestaltet. Die Zäune zwischen den einzelnen Parzellen hat man niedergerissen. Ist besser für den Austausch, das Gemeinschaftsgefühl und die gute Nachbarschaft und so.
Petr Kudelka lebt in der grünen Enklave des Stuwerviertels. Er lacht. Wer das Klischee sucht, findet es auch. Er weiß, dass sein Gegenüber gerade sehr fündig geworden ist. Er ist sich des Klischees durchaus bewusst, wenn er von seinem Engagement für Flüchtlingsprojekte und vegane Vereine erzählt. Wenn er die Parteien im Haus Wohnung für Wohnung durchgeht, die zwei Ärzte, den Fotografen - und nicht zu vergessen den IT-Fachmann, der sich derzeit zum Kindergärtner umschulen lässt, weil er sich nicht länger von dem kapitalistischen System in einer 40-Stunden-Woche ausbeuten lassen wollte. Wieder muss Kudelka schmunzeln. Wenn er von dem Kollektiv einen Häuserblock weiter erzählt, das zu Lesungen und Aktionen einlädt, sei das zu Umbenennung von Straßenamen verstorbener Antisemiten oder zur Solidarität mit den Sexarbeitern im Viertel. Einmal in der Woche kommt dort auch ein Bio-Bauer aus dem Waldviertel vorbei und versorgt die Nachbarschaft mit Obst und Gemüse. Ja, Petr Kudelka weiß, wie sich das anhört. Nach purer Bobo-Idylle. "Wir sind ideologisch zuordenbar, man erkennt sich untereinander schon", sagt er.
Über Politik unterhält er sich mit den Nachbarn in der Enklave kaum. Man weiß ohnehin, was der andere wählt. An der einen oder anderen Aussage bemerkt er höchstens, dass es sich um einen Abtrünnigen handeln könnte - dann, wenn über die Ausländer geschimpft wird, über die vielen Kopftücher und wie sich das Viertel in den vergangenen Jahren verändert hat. Es sind seltene Ausflüge in die blaue Gesinnungswelt.
Als Feindbild hat sich der neue Bürgerliche noch nicht etabliert
In seinem Straßenzug begegnet Kudelka der FPÖ kaum. Vielleicht einmal im Billa. Oder am Spielplatz. Aber das ist die Ausnahme. Seit 20 Jahren lebt er schon in der Venediger Au. Viel hat sich hier getan. Das alte Stuwerviertel ist nicht mehr. Statt Prostituierten joggen nun Studentinnen der angrenzenden Wirtschaftsuniversität durch die Straßen. Und die paar Sexarbeiter, die es noch gibt, haben sich in einem der zahlreichen Studios verschanzt. Sie stören ihn nicht. Viel eher beunruhigen ihn die zahlreichen Polizeistreifen. "Ich werde jedes Mal wütend, wenn ich die Polizei hier durchfahren sehe, weil nichts gegen die wirkliche Kriminalität getan wird, sondern eine Gruppe, die politisch oder sozial nicht erwünscht ist, kriminalisiert wird. So etwas vermittelt mir Unsicherheit", sagt er.
Für Brigitta Jagodic könnten nicht genug Polizisten in der Straße patrouillieren, um etwas gegen die "Dirnen" und die "Rauschgiftsüchtler" im Park zu unternehmen.
Seit 30 Jahren lebt die ehemalige Postangestellte am Max- Winter-Platz, in der blauen Enklave. Viel hat sich hier verändert. Nur zum Schlechten, meint sie. Alles hätten die Ausländer hier verschandelt, den Park am Max-Winter-Platz, wo sie sich breitmachen würden, die türkischen Frauen, die "nicht darauf schauen, was ihre Gschroppn anstellen". Und was macht der Bezirk? Grätzelfeste. Jagodic hat von diesen Zusammentreffen gehört. Sie sind ihr nicht geheuer. "Die Gebietsbetreuung macht das doch nur für die Ausländer", ärgert sich die 66-Jährige. "Die Unsrigen" müssten schauen, wo sie bleiben.
Ihre Sitznachbarn pflichten ihr bei. Es ist Mittwochabend im Gasthaus Möslinger. Seit zwei Jahren kommt Jagodic jeden dritten Mittwoch im Monat in das Lokal. Hier findet der Stammtisch der FPÖ Leopoldstadt statt. Wohl fühlt sie sich in der Runde. Man kennt einander von Ausflügen und Kaffeekränzchen, organisiert von der Seniorengruppe der FPÖ Leopoldstadt.
Beim Stammtisch können sie ihre Seele baumeln lassen, sich echauffieren über den "Verkehrswahnsinn", den sie Tag für Tag als Autofahrer in ihren verkehrsberuhigten Straßen im Viertel durchstehen müssen. Ruiniert hätten die Roten und die Grünen den Bezirk, mit ihren Fahrrädern und ihren Ausländern. Zum Glück hätte der eine oder andere Vermieter noch ein Herz und würde darauf schauen, dass nur "anständige Leute" in den Häusern einziehen würden.
Und die Bobos? Sind sie ihnen aufgefallen, die neuen Bürgerlichen in ihren ausgebauten Dachgeschoßwohnungen? Stören sie die Besserverdiener? Wie sie sich mit ihrem Einkommen teurere Wohnungen leisten können und so die Mietpreise in die Höhe treiben? Sie unter Umständen gar irgendwann vertreiben? Beunruhigen sie die? Brigitta Jagodic zuckt mit den Schultern. Sie hat einen alten Mietvertrag. Das reicht ihr. Als Feindbild muss sich der Bobo in ihrer Welt erst etablieren. Noch haben da andere Fixgrößen das Kommando.
Der Bobo wagt sich ohnehin nicht in ihre Welt. Und der grüne Bobo schon gar nicht. Auch Jagodic sucht nicht nach seiner Nähe. Nur einmal sei sie einem Grünen begegnet, erzählt sie. Das war vor ein paar Monaten, als sie mit ihren Enkeln auf der Mariahilfer Straße spazieren war. Die Grünen hatten dort einen Stand aufgestellt. So ein "depperter Student" habe sie provoziert mit blödem Gerede gegen Norbert Hofer. An den genauen Wortlaut kann sich die Pensionistin nicht mehr erinnern. Nur, dass sie irgendwann wütend geworden ist. "Dann hab ich ihm in die Gosch’n gehaut", erzählt Jagodic. Und grinst. Ihre Enkel haben sie von dem Stand wegziehen müssen. Das war die erste und bis dahin letzte Begegnung mit der anderen Welt, jenseits der Grenze.