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Für Meinungsforscher Rudolf Bretschneider hat sich die Kategorie des Bürgertums aufgelöst. Und laut Ex-ÖVP-Politiker Bernhard Görg wird heute der Begriff "bürgerlich" von manchen sogar als Beleidigung aufgefasst.
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Wien. "Ich komme aus bürgerlichem Hause und habe mein Leben lang ÖVP gewählt. Aber dieses Mal weiß ich wirklich nicht, wo ich mein Kreuzerl machen soll", sagt eine Wiener Gastronomin, während sie die dampfenden Schalen mit Frittatensuppe serviert. "Bei den Roten würden sich die Eltern im Grab umdrehen, die Grünen gehen überhaupt nicht mit ihrer Parkplatzvernichtung, der Strache ist mir zu ausländerfeindlich und die Neos werden nix verändern", meint die Wirtin. Warum sie dann nicht ÖVP wählt? "Irgendwie kann ich mich mit denen nicht mehr identifizieren und den Strache würd’s auch nicht verhindern", erklärt die Mittfünfzigerin. Und mit dieser Meinung ist sie nicht die Einzige unter der ÖVP-affinen Wählerschicht in der Stadt.
Keine Lagermentalität mehr
Warum wählt das Bürgertum nicht mehr die ÖVP? "Eigentlich ist das die falsche Frage", erklärt Meinungsforscher Rudolf Bretschneider in einem Gespräch mit der "Wiener Zeitung." "Kategorien, wie das sogenannte Bürgertum haben ihre Bedeutung verloren. Genauso könnte man fragen: Was ist noch sozialdemokratisch? Oder wo ist die Arbeiterpartei", meint der Experte.
Auch die Lagermentalitäten haben sich laut Bretschneider aufgeweicht. Die Bereitschaft zu wechseln sei mittlerweile salonfähig geworden. Ein Ausdruck dieser Situation sei genauso in den Parteien selbst zu finden. Dass Grüne zur SPÖ überlaufen oder Abgeordnete vom Team Stronach zur ÖVP wandern, zeuge zwar von einer gewissen Befreiung, vermittle aber eine gewisse Beliebigkeit.
Generell müsse das Thema über eine längere Perspektive betrachtet werden und dürfe nicht nur parteipolitisch heruntergebrochen werden, betont Bretschneider. In den 1970ern habe Erhard Busek mit der ÖVP rund 34 Prozent erzielt. "Damals gab es die Grünen noch nicht, die FPÖ war damals eine wirtschaftsliberale Partei und die SPÖ war damals noch ideologischer geprägt als heute." Allerdings sei Leopold Gratz vom Habitus her durchaus schon jemand gewesen, der für bürgerliche Wähler in Frage gekommen sei.
Auch der spätere Bürgermeister Helmut Zilk habe zwar sozialdemokratisch gewählt, sei aber von seinem ganzen Lebensstil her immer ein bürgerlicher Mensch gewesen, meint Bretschneider. Durch das Auftreten der Grünen sei schließlich die ÖVP immer mehr unter Druck gekommen - vor allem weil bis dahin Dinge wie das Einstehen für liberale Demokratie, Grundrechte, eine gewisse Selbständigkeit im Denken als bürgerliche Tugenden bezeichnet wurden. Außerdem sei es ursprünglich die Wiener ÖVP gewesen, die angeregt durch die Zwentendorf-Diskussion und Hainburg das Umweltthema miterfunden habe. "Damals hat es geheißen: Die Väter wählen schwarz, die Kinder der Bürgerlichen wählen grün", so der Meinungsforscher. Als Kind dieser Zeit nannte er Grün-Politiker Christoph Chorherr, der damals vom schwarzen Wirtschaftsbund nicht durch ideologisches Gewissen, sondern aus technokratischen Gründen zu den Grünen gewechselt sei. Und die ÖVP habe dann nach der Abwahl Buseks begonnen, immer öfter ihre Obmänner zu wechseln. Und das sogenannte Bürgertum habe zunehmend seine Orientierung verloren. "Und in der aktuellen Situation gibt es jetzt durchaus Wähler, die sagen, auf Bundesebene wählen sie ÖVP, aber in der gegebenen Wiener Situation, in der FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache Erster zu werden droht, wählen sie den Bürgermeister. Was aber letztlich sowohl dem Bürgermeister als auch Strache zugutekommt", so Bretschneider.
Und damit sei man wieder bei der Beliebigkeit angelangt, wo Begriffe wie das Bürgertum keine Rolle mehr spielen. "So hat sich wahrscheinlich das Phänomen der fluiden Massengesellschaft durchgesetzt, das viel stärker auf momentane Ergebnisse und nicht mehr auf lange politische Sozialisation ausgelegt ist."
Nicht auf Augenhöhe
Der ehemalige ÖVP-Vizebürgermeister Bernhard Görg sieht das ähnlich. "Es gibt diese homogene Gruppe von Bürgern nicht mehr, wie es sie zu Buseks Zeiten gegeben hat", meint er. "Der Begriff bürgerlich hat in den letzten 30 Jahren eine derartige Abwertung erfahren, dass es heute manche schon als Beleidigung empfinden", so Görg. Man sei heute liberal oder progressiv - aber mit Sicherheit nicht mehr bürgerlich.
Aber abgesehen davon gibt es laut Görg in Wien für die ÖVP keine öffentliche Funktion, die es erlauben würde, auf Augenhöhe mit dem Bürgermeister zu kommunizieren. Nur Strache würde das einigermaßen schaffen, weil er aus der Bundespolitik komme. Und das sei eigentlich schon seit Jahren das Grundproblem der Wiener ÖVP. Mit dem Bürgertum habe das aber wenig zu tun.