Das Rote Kreuz hilft Flüchtlingen, mit einer Online-Suche verlorene Familienmitglieder ausfindig zu machen.
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Wien. Es fallen Schüsse. Aus der Ferne sind Bombeneinschläge zu hören. Manche Nachbargebäude sind längst schon nur noch stehende Ruinen, unbewohnbar. Als Familie wird eine schwere Entscheidung getroffen: Flucht. Nach wochenlanger Wanderschaft, Übernachtungen an Bahnhöfen und Durchquerung mehrere Grenzen wähnt man sich vorerst sicher. Bis für einen Moment die Konzentration nachlässt. Dann passiert es und man verliert seine Familie aus den Augen.
Dieses Szenario ist für viele Menschen grausame Realität auf der Flucht vor dem Krieg oder vor Verfolgung. Laut dem "Kompetenzzentrum für abgängige Personen" (KAP) gibt es für Wien keine statistische Erfassung der geflohenen Menschen, die Angehörige als vermisst gemeldet haben. Laut dem BKA waren 2015 über 450 Personen in Wien abgängig (österreichweit über 860), davon über 150 Minderjährige.
Den Kontakt zu verlorenen Angehörigen wiederherzustellen ist bei der gegenwärtigen Desorganisation der europäischen Flüchtlingspolitik eine beinahe unmögliche Aufgabe. Aus diesem Grund hat das Rote Kreuz vor rund zweieinhalb Jahren die Idee zur "Fotoerkennungs-Plattform" ins Leben gerufen. "Wir haben in Ungarn einen Minderjährigen gesucht. Die ungarischen Kollegen haben das Kind nicht gefunden, weil es falsch registriert war. Es wurde erst über Privatvereine mithilfe eines Bildes entdeckt. Wir haben erkannt, dass dies ein großes Problem in Europa ist und uns gefragt, wie wir da helfen können. Über Fotos. Das haben wir im Zweiten Weltkrieg schon gemacht", sagt Claire Schocher-Döring, Leiterin des Suchdienstes und der Familienzusammenführung beim Roten Kreuz in Wien im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Skepsis am Anfang
Aufgrund von EU-Datenschutzvorgaben gab es für das Rote Kreuz nur eine Lösung: Die Umkehr des Suchweges. "Ich als Suchender, kann ja meine Erlaubnis erteilen und lasse daher mein Foto veröffentlichen. Unter dem Foto gebe ich an, wen ich suche. Die Schwester, die Tochter oder den Ehemann. Wenn mich eine vermisste Person erkennt, dann weiß sie ja, wer ich bin und wie ich heiße. Über das Rote Kreuz kann dann die Familie in Kontakt treten", sagt Schocher-Döring.
Selbstverständlich, gesteht Schocher-Döring, war diese Aktion anfangs von Skepsis begleitet. "Doch inzwischen hat sich die Sinnhaftigkeit von ‚Trace the Face‘ bestätigt. Es sind bereits österreichweit über 1000 Fotos online. Allein in den vergangenen Wochen gab es vier neue Treffer. Bei den letzten erfolgreichen Zusammenführungen war es so, dass die Familien gemeinsam nach Europa unterwegs waren, aber es immer nur ein Teil geschafft hat. Der Rest ist wieder ins Herkunftsland zurückgekehrt. Die hätten wir mit den klassischen Suchantrag nie gefunden."
40 Fälle positiv erledigt
In Wien haben sich 2015 144 Menschen an "Trace the Face" gewandt, um nach ihren Angehörigen zu fahnden. Davon konnten bisher 40 Fälle positiv erledigt werden. Die technischen Details des Arbeitsvorgangs, wenn sich jemand meldet, sind einfach. Eine vermisste Person sieht auf der Homepage das Foto ihres Familienmitgliedes, das jemanden sucht und klickt darauf. Danach muss sie verschiedene Daten angeben, die dann an die nationale Gesellschaft weitergeleitet werden, bei der das Foto gespeichert ist. Erst dann wird der Antragssteller kontaktiert und befragt, ob er die Person kennt, die sich gemeldet hat.
"Wir machen keine Identifizierung über Pässe oder Identitätskarten, sondern über die Blutslinie. Wir fragen bei der Person, die sich gemeldet hat und als vermisst gilt, einmal nach. Wie heißen deine Eltern? Wie heißen alle vier Großeltern? Diese Antworten werden dann abgeglichen. Und wenn sämtliche Zweifel beim Antragssteller beseitigt sind, dann wird der Kontakt hergestellt", sagt Schocher-Döring.
Aktuell wurde bei der "Trace the Face"-Webseite die Marke von 50.000 Aufrufen übertroffen. Das große Ziel des Roten Kreuzes ist es in Kooperation mit NGOs und Hilfsorganisationen diese Seite noch stärker bekannt zu machen. In naher Zukunft soll daher eine eigene Facebook-Seite dabei helfen. "Gerade die Syrer, von denen ich mir einen Anstieg bei der Suchanfrage erwarte, sind sehr gut vernetzt. Da muss man wirklich die neuen Kanäle nutzen".
Projekte außerhalb Europas
Ebenfalls in Arbeit befinden sich Pläne, die Suchplattform auch außerhalb Europas zu starten, etwa in Kabul. Dass es dabei Probleme geben kann, erläutert Schocher-Döring mit ein paar Beispielen: "In manchen Kulturkreisen ist es nicht üblich, dass Frauen fotografiert werden. Fotos sind überhaupt ein großes Risiko. Auf unserer Homepage kann man aber nicht sehen, wie wer heißt und wo er sich befindet.
Aufgrund der Gefahr des Menschenhandels ist es ganz wichtig, nicht zu sagen, dass es sich auf dem Bild um eine junge Frau handelt, die ganz ohne Familie hier ist. Das Rote Kreuz gibt auch keine Daten an Dritte weiter. Unsere Arbeit hilft nicht beim Asylverfahren, dient nicht bei polizeilicher Suche. Die Daten bleiben einzig bei der Familie. Das Ziel ist wirklich nur, den Kontakt zwischen Familienangehörigen herzustellen".
Schocher-Döring ist seit ihrem zehnten Lebensjahr beim Roten Kreuz tätig und hat als Erwachsene jahrelang in der Jugendarbeit gearbeitet. Sie sieht die Suche nach Vermissten als die Kernaufgabe des Roten Kreuzes. "Es ist essenziell, dass die Leute auch einmal sagen können ‚ich vermisse jemanden‘. Wenn man nicht weiß, wo die Familie ist, erweist sich das als integrationshemmend und hat psychische Auswirkungen für die Beteiligten. Für mich ist daher die Ermöglichung der Familienzusammenführung das Herzstück meiner Arbeit".