Was hinter einem oft benutzten politischen Begriff steckt.
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Italien hat nun eine "populistische" Regierung. Polen und Ungarn haben schon eine. Die österreichische Regierung setzt sich dem Vorwurf des Populismus aus. Was war die Brexit-Kampagne anderes als Populismus? Ist der katalonische Separatismus kein Populismus? Ein kulturgeschichtlicher Schnelldurchgang hilft beim Sortieren der Lage.
"Populismus" ist nur ein Begriff von vielen, die wie zum Beispiel "populär" oder "pop" , ausgehend vom lateinischen "populus": Kontexte adressieren, die zu einem als breit gedachten Publikum gehören. Nicht nur politisch wird dieses breite Publikum Icon-artig verkürzt als "Volk" gesehen. Es gibt ebenso "literarischen Populismus" wie "musikalischen Populismus". Entscheidend ist, dass das Volk zunächst als Produzent verschiedener kultureller oder politischer Inhalte angesehen wird. Diese vermeinten Inhalte werden von herausgehobenen Personen (Politikern, Komponisten, Literaten usw.) einer Bearbeitung und Strukturierung unterworfen und demselben Volk, nunmehr nur noch Publikum, zurückgegeben.
"Populismus" meint insoweit wörtlich alles, was mit der Bezugsgröße "Volk" zu tun hat. "Volk" als Bezugsgröße ist historisch stark verwurzelt. Wer "das Volk" (populus, peuple, people, Volk) ist, variiert freilich im Laufe der Zeit. Schon das Lateinische arbeitet mit der Unterscheidung von "populus" und "plebs". Das Volk ("populus") umfasst keineswegs die Unterschichten. Kennt das geltende Rechtssystem Unfreie beziehungsweise Sklaven, so sind diese ebenfalls ausgeschlossen.
Das Volk als Souverän
Taucht in mittelalterlichen Quellen das Wort "Volk" auf, bezieht es sich in der Regel auf einen zwar breiteren Personenkreis, aber dessen Angehörige haben einen hervorgehobenen Status, mindestens den des wehrhaften Mannes, den der Führer oder Herrscher in bestimmten Situationen zu den Waffen ruft.
Die gründlichste und weitreichendste Bedeutungserweiterung erfuhr der Begriff "Volk" in der Epoche der Französischen Revolution. Das Volk ("le peuple" beziehungsweise "la nation") wurde als politischer Souverän definiert. Zunächst noch gemeinsam mit dem König, in der Phase der Republik (ab 1792) dann allein. Gemeint waren jedoch nur volljährige Männer. Trotzdem ist die prinzipielle politische Definition von Volk als Souverän bis heute gültig geblieben.
Dass im revolutionär ausklingenden 18. Jahrhundert auch der literarische und musikalische Populismus entstand, war kein Zufall. "Gedrucktes für das Volk" - wie Kalender und Almanache, Erbauungsbüchlein und Ähnliches - gab es in der ganzen Neuzeit. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde aus "Gedrucktem für das Volk" ausgesprochene "Volksliteratur", die in der breiten Diskussion um die "Volksaufklärung" einen zusätzlichen Schub erfuhr.
Zeitlich parallel und inhaltlich verflochten war das große Interesse, das Komponisten dem "Volkslied" oder "volkstümlichen Lied" entgegenbrachten - ganz willkürlich sei nur Johann Adam Hiller genannt. Ob in der Musik oder der Literatur, es waren immer "Profis", die entweder etwas für das Volk schrieben oder komponierten oder dem Volk etwas vermeintlich Volkstümliches abschauten und ihrem literarischen oder musikalischen Können einverleibten.
Um 1800, lässt sich sagen, steht "das Volk" als politischer Souverän da, wenigstens in der fortschrittlichen Theorie, zugleich besitzt dieser Souverän Kultur (zum Beispiel Literatur und Musik) beziehungsweise wird er der Akkulturation (Literatur und Musik für das Volk) für befähigt angesehen.
Das politische Schreckgespenst
Das 19. Jahrhundert trennt die kulturelle und die politische Interpretation von "Volk" wieder stärker im Vergleich zum 18. Jahrhundert. In extremis wird das Volk politisch zum Schreckgespenst, eine permanente Drohung aufgrund seiner Unbotmäßigkeit, eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung, der Monarchen, der Unternehmer, eine revolutionäre Bedrohung wie 1848.
Allerdings wird dasselbe Volk - jedenfalls seine männliche Hälfte - gebraucht, da sich die meisten Staaten in Nationalstaaten umwandeln und einen schier grenzenlosen Bedarf an Soldaten haben. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in praktisch allen Staaten bringt zwar nicht automatisch ein allgemeines aktives und passives Männerwahlrecht, aber es wertet die Männer dennoch politisch auf, sodass es diese Bevölkerungshälfte ist, die sukzessive ein Wahlrecht erhält, zuerst und vor den Frauen.
Das Volk wird also zunächst einmal dezidiert männlich und als Wahlvolk anfangs von den "Volksmassen" durchaus unterschieden. In den Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt das meiste in eins, und der Führer/Diktator wird zur Verkörperung des Volkes. In dieser Konstellation der Verkörperung wird der Volksbegriff allerdings verändert: Er wird rassistisch und massiv diskriminierend.
Der Begriff meint nun nicht mehr "das Volk", wie es sich findet, sondern er stellt einen Begriff der performativen Zurichtung dar. Das Volk wird nach bestimmten Grundsätzen geformt, und wer damit nicht konform gehen will, wird ausgeschlossen, gegebenenfalls sogar ermordet. Und nur für dieses "gereinigte" Volk ist der Führer da.
Die Ideologie der Exklusion
Der gegenwärtige Populismus stellt nichts anderes dar, als eine "weichgespülte" Version dieser historischen Fehlentwicklung. Rassismus und Diskriminierung werden durch die Formulierung sozial-wohlfahrtlicher Programmpunkte verdeckt. Nationale Stereotype werden gepflegt und instrumentalisiert. Die performative Zurichtung des Volkes hat sich im Grundsatz nicht geändert. Die Ideologie der Exklusion äußert sich in einer Verweigerungshaltung gegenüber dem Humanitarismus.
"Das Volk", wie es der heutige Populismus als Adressat und Manövriermasse versteht, gibt es jedoch nicht. Die allgemeine sozio-ökonomische und politische ebenso wie die kulturelle Entwicklung hat zu einer Ausdifferenzierung in die gesellschaftliche Breite geführt, die zugleich für immer mehr Menschen transnational (europäisch und global) bestimmt ist. Damit fängt der politische Populismus, egal ob von rechts oder links, nichts an. Es kommt also zum harten Konflikt: Entweder scheitert der Populismus an der transnationalen Gesellschaft oder diese an ihm.
Wolfgang Schmale ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien (Buchtipp: "Was wird aus der Europäischen Union?", Reclam Sachbuch, 2018).