Ohne Oktoberrevolution würde es die Stadt Stupino in der Nähe Moskaus nicht geben.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Vielerorts scheint im 70.000 Einwohner zählenden Stupino, 90 Kilometer südlich von Moskau, die "gute, alte Sowjetzeit" stehengeblieben zu sein. Das Herz der Stadt, den Lenin-Platz mit Rathaus und Kulturpalast, beherrscht 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR wie selbstverständlich noch die Statue des Revolutionsführers. Von hier aus spannen die beiden Hauptachsen - die nach dem späteren Staatschef benannte Andropow-Straße und der "Prospekt des Sieges" - den regelmäßigen Stadtkörper auf, der mit seiner baulichen Vielfalt geradezu ein Freilichtmuseum sowjetischer beziehungsweise russischer Architektur ist: von den typischen, noch kleinbäuerlich geprägten Holzhäusern über klassizistische Prunkbauten und sozialistische Plattenbauten bis hin zu den oft kitschigen Protzbauten der letzten zweieinhalb postkommunistischen Jahrzehnte.
Dabei ist Stupino eine ganz junge Stadt: Im Anschluss an ein kleines, unbedeutendes Dorf gleichen Namens wurde erst in den 1930er Jahren, als Stalin mehrere Indus-triestädte rund um Moskau aus dem Boden stampfen ließ, mit ihrer Errichtung begonnen. Die ersten Bauten waren in Zeilen errichtete, zweigeschoßige Baracken mit jeweils zwölf Kleinstwohnungen für die Bauarbeiter und die Beschäftigten der neu gegründeten Fabriken: einer Lokomotivenfa-brik, später eines metallverarbeitenden Betriebs und schließlich der bald bestimmenden Luftfahrtindustrie - wegen deren militärischer Relevanz Stupino zu einer "geschlossenen Stadt" wurde.
Für die Bewohner selbst hatte dies keine gravierenden Konsequenzen. Andere Sowjetbürger allerdings durften sie nur unter besonderen Voraussetzungen besuchen, und Ausländern war bis zum Zerfall der UdSSR im Dezember 1991 der Zutritt verwehrt.
Von den Baracken gab es ursprünglich 77. Heute steht nur noch knapp die Hälfte davon, zumal das staatliche Planungsinstitut GOSTROJ, das zentral, von Moskau aus, oft wenig sensible Konzepte für die Entwicklung der Städte Russlands entwirft, bereits Anfang der 90er Jahre deren Abriss vorsah. Doch zum Glück entzieht sich auch in Russland so mancher Plan seiner konsequenten Umsetzung. Denn obwohl Zustand und Ausstattung der lehmverputzten Holzbauten alles andere als zeitgemäß sind, herrscht in den Barackensiedlungen eine hohe Wohnzufriedenheit.
Davon zeugt ihre einfallsreiche Instandhaltung durch die Bewohner ebenso wie die liebevolle Pflege der baumbestandenen Gärten zwischen den Häuserzeilen - wo in der warmen Jahreszeit, bedingt auch durch die Enge der Wohnungen, ein geradezu dörfliches Nachbarschaftsleben inmitten der Stadt herrscht.
Das Bild von Stupino prägt aber die ab 1939 realisierte Bebauung, mit der das heutige Zen-trum binnen eines Jahrzehnts generalstabsmäßig in die Höhe gezogen wurde. Als die halbe Welt in den Krieg stürzte, sich die UdSSR aber noch in Sicherheit wähnte, begann nach dem typischen Konzept stalinistischer Stadtgründungen die Errichtung von zwei- bis fünfgeschoßigen Wohnhäusern, von Kindergärten und Schulen, Ämtern und Spitälern, Geschäften, Gaststätten, Kultur-, Sport- und Erholungseinrichtungen. Dem Geschmack des Diktators entsprechend, schufen Stalins Architekten solide Ziegelbauten mit prunkvollen historisierenden Fassaden, die dem neu gegründeten Stupino zumindest baukünstlerisch eine Geschichtlichkeit verliehen. So ist das Zen-trum für Laien manchenorts nur schwer von Altstädten aus der Zeit von Katharina der Großen zu unterscheiden. Die 75 Jahre alten Wohnhäuser mit ihren begrünten Innenhöfen bieten zwar für heutige Ansprüche mitunter zu kleine Wohnungen, sind aber bis auf die Fenster nach wie vor in recht gutem Zustand. Und auch die teils palastartigen öffentlichen Gebäude aus den 40er Jahren sind unverändert in Funktion.
Offenbar strahlte der baukulturelle Geist der "Gründerzeit" auch auf die Baumaßnahmen in den folgenden Jahrzehnten aus. Denn während viele andere Städte der Sowjetunion durch gesichtslose Plattenbaukomplexe wuchsen, schließen die großmaßstäblicheren Wohnbauten der 60er, 70er und 80er Jahre in Stupino geradezu harmonisch an den Stadtkern an. Ob um Höfe gruppiert, ob in Zeilen angeordnet, kennzeichnet die fünf- bis vierzehngeschoßigen Wohnquartiere in der jeweiligen Formensprache der Chrusch-tschow-, Breschnew- und Gorba-tschow-Ära in der Regel eine durchaus gefällige Architektur sowie eine großzügige Durchgrünung: in den Straßen Alleen und in den Innenhöfen gepflegte Gärten mit Spielplätzen. Freilich sind die älteren Plattenbauten bauphysikalisch mittlerweile in einem so bedenklichen Zustand, dass ihre Sanierung nicht mehr zu rechtfertigen wäre und sie über kurz oder lang der Abrissbirne anheimfallen werden.
Kitsch und Autos
Gestalterisch und urbanistisch aber fallen allein die Wohnviertel der postsowjetischen Zeit in ihrer Qualität ab - was auch darauf zurückzuführen sein mag, dass es sich dabei vielfach um von Moskau aus geplanten Werkswohnungsbau handelt, auf den die Stadtplanung von Stupino wenig Einfluss hatte. Dachgiebel im Stil der Neorenaissance und vorgetäuschte Schindeldächer verkitschen die zwölfgeschoßigen Apartmenttürme. Deren Höfe wiederum sind deutlich karger bepflanzt und werden sichtlich weniger in Anspruch genommen als in den älteren Quartieren.
Dafür sind sie stärker durch Autos verparkt, zumal auch der Motorisierungsgrad in den Neubauvierteln merklich höher ist. Während 1990 noch 100 Pkw auf 1000 Russen entfielen, waren es zehn Jahre später bereits 260 - ein Wert, der in Folge der Wirtschaftskrisen seither relativ stabil geblieben ist. So beklagt man im Rathaus zwar ein Defizit von mindestens 5000 Garagenplätzen, verfügt aber nicht über die nötigen Mittel, diese auch zu errichten.
Das kommunale Budget fließt in erster Linie in die Wohnversorgung der Bürger, ist die Stadt doch Träger fast aller Wohnbauten in Stupino: nicht nur jener, die von der Kommune selbst errichtet wurden, sondern auch der Werkswohnungen, die während der Rezession der letzten Jahre von maroden Betrieben an die Stadt übertragen wurden.
Vom eigentlichen Mietpreis bezahlen die Bewohner lediglich 45 Prozent, den Rest deckt das Rathaus. Neben dieser Belastung fallen auch Erhaltungs- und Sanierungskosten für den Gebäudebestand an, wobei sich die für die Bürger identitätsstiftenden Bauten aus der Stalin-Zeit als am wertbeständigsten erweisen.
Nicht zuletzt kommen noch Investitionen in den Wohnungsneubau hinzu. Denn trotz der dramatisch gesunkenen Geburtenrate Russlands stieg der Wohnraumbedarf in Stupino durch Wohnungszusammenlegungen im sanierten Altbestand sowie den Zuzug von Russen aus dem unwirtlichen Norden, die seit der Öffnung des Landes in südlichere Regionen ziehen.
Dass die Stadt all das bewältigen kann, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Verdienst ihres Bürgermeisters, der seit 25 Jahren die Geschicke Stupinos in - im wahrsten Sinn des Wortes - unbestechlicher Manier lenkt. Der großgewachsene, athletische Mittsechziger, der zu Sowjetzeiten ein durchschlagskräftiger Handballer war, vermochte als Politiker all jenen Verlockungen zu widerstehen, denen viele seiner Kollegen im korruptionsanfälligen Russland erliegen. Mit dem Erfolg, dass sich der US-amerikanische Süßwaren- und Tierfutterhersteller Mars in den 90er Jahren auf der Suche nach einem geeigneten Produktionsstandort für den russischen, ukrainischen und kasachischen Markt unter rund hundert Gemeinden ausgerechnet für Stupino entschieden hat.
Neben der verkehrsgünstigen Lage unweit von Moskau und der Verfügbarkeit von sauberem Wasser entschied sich der Investor vor allem wegen ihrer effizienten Verwaltung für die Stadt an der Oka. Bürgermeister Pawel Tschelpan engagierte eigens einen ehemaligen Offizier der Roten Armee, um den Konzern bei der Einholung aller nötigen Genehmigungen auf staatlicher und regionaler Ebene zu unterstützen - und ist bis heute stolz, dass dies "in relativ kurzer Zeit, ohne einen einzigen Rubel an Schmiergeld" gelang.
Der Neustart
Als nächstes siedelte sich ein niederländischer Molkereikonzern an, und bald folgten noch weitere Unternehmen, wie ein deutscher Bau- und Dämmstoffproduzent oder ein italienischer Fliesenhersteller, dem Beispiel der Amerikaner. Damit gelang dem Wirtschaftsstandort Stupino ein für Russland seltener Neustart, den die angestammte Industrie mit ihrer wenig weltmarkttauglichen und massiv umweltbelastenden Produktion alleine wohl kaum geschafft hätte.
Der Nutzen für die Stadt ging und geht dabei weit über den unmittelbaren Segen der Steuerzahlungen durch die Betriebe hinaus: Es entstanden Hunderte moderner Jobs mit überdurchschnittlichen Löhnen, die den Wohlstand in der Stadt bald spürbar mehrten. Zudem sorgten die westlichen Arbeitgeber für einen nachhaltigen Qualifizierungsschub in der lokalen Arbeitsbevölkerung.
Freilich gingen mit dieser Entwicklung auch ungewollte Phänomene einher. Beispielsweise ermöglichten die hohen Gehälter manchen Angestellten ausländischer Konzerne den Bau luxuriöser Einfamilienhäuser weit außerhalb der Stadt - mit bis dahin unbekannten Problemen wie Suburbanisierung und Zersiedelung, Abhängigkeit vom Auto und sozialer Segregation. Diese villenartigen, aber nicht immer geschmackssicheren Bauten am Rande Stupinos versinnbildlichen die rasante Differenzierung von Russlands Gesellschaft und seiner Städte, selbst in der Provinz.
Gleichzeitig steht Stupino aber für die Eigenverantwortlichkeit und das Beharrungsvermögen einer städtischen Gesellschaft, die angesichts der in Russland verbreiteten Lethargie keine Selbstverständlichkeit darstellen. Gepaart mit einem unübersehbaren Stolz auf die junge, aber ereignisreiche Geschichte Stupinos, sind sie die besten Garanten dafür, dass auch ihr architektonisches und städtebauliches Erbe weiterhin Bestand haben wird.
Reinhard Seiß ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien, und war u.a. auch als Stadtplaner in Russland tätig.