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Wo sind Putins rote Linien?

Von Alexander Dubowy

Gastkommentare
Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.
© Prokofief

Mit seiner Einschüchterungstaktik der unbestimmten Drohungen will das russische Regime die westlichen Gesellschaften ganz bewusst im Ungewissen belassen. Westliche Vorsicht und Uneinigkeit werden als Schwäche betrachtet.


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Während des Galakonzerts anlässlich des 80. Jahrestages des sowjetischen Sieges in der Schlacht um Stalingrad griff Wladimir Putin die angekündigte Lieferung westlicher - insbesondere deutscher - Kampfpanzer rhetorisch auf und stieß eine unverhohlene, doch dem Inhalt nach unbestimmte, Drohung aus: "Wir schicken unsere Panzer zwar nicht an ihre Grenzen, haben jedoch eine Antwort parat. Und mit einem Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen endet die Angelegenheit nicht. Alle sollten das verstehen."

Mit dieser Aussage entfachte der russische Präsident erneut die Diskussion über die Wahrscheinlichkeit eines Weltkrieges sowie den potenziellen Einsatz von Atomwaffen durch Russland. Die Unbestimmtheit russischer Drohgebärden ist kein Zufall und keine rhetorische Flapsigkeit. Vielmehr handelt es sich um eine bewusste Einschüchterungstaktik des russischen Regimes.

Die viel diskutierten sogenannten roten Linien für den Atomwaffeneinsatz werden in erster Linie von Putin vorgegeben. Es war auch der Kreml-Chef, der mit seiner kaum verhohlenen Drohung, Atomwaffen in einem konventionellen Konflikt einzusetzen, gleich zu Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine eine faktische Ausweitung der offiziellen Nukleardoktrin Russlands herbeiführte.

Zurzeit kann sich der Westen über den genauen Verlauf der sprichwörtlichen roten Linien in der Vorstellungswelt des Präsidenten der Russischen Föderation keinesfalls sicher sein: So gipfelt letztlich jede Handlung auf westlicher Seite in einem heuristischen Spiel aus Versuch und Irrtum. Damit kann jede beliebige Handlung des Westens von Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden.

Das wesentliche Missverständnis auf westlicher Seite dürfte allerdings darin bestehen, dass es angesichts des ständigen taktischen Lavierens des russischen Staatschefs keine klaren roten Linien in der Vorstellungswelt Putins sowie seiner Umgebung geben kann, ja geben darf. Die strategischen Vorgaben in den doktrinellen Dokumenten Russlands unterliegen ohnehin machtpolitisch, aber auch verfassungsrechtlich der Interpretationshoheit des russischen Staatspräsidenten.

Deutungshoheit und nicht Eskalationsdominanz

Diese Einschüchterungstaktik der unbestimmten Drohungen soll nach Ansicht des russischen Regimes die westlichen Gesellschaften ganz bewusst im Ungewissen belassen; in ständige innere Unruhe versetzt, mit den eigenen Zweifeln und - aus der Epoche des Kalten Krieges stammenden - Urängsten vor einem Atomkrieg konfrontiert. Solcherart sind direkte Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen gar nicht notwendig. Denn die unbändige Kraft des menschlichen Vorstellungsvermögens zeichnet ganz von allein zahllose Untergangsszenarien.

Gegenüber dem Westen sowie den westlichen Gesellschaften sollen die regelmäßigen - ihrem Inhalte nach - unbestimmten Drohungen der russischen Führungsriege sowie das Fehlen offizieller roter Linien Unruhe stiften, Angst machen, Zwistigkeiten befördern und andeuten, dass es für Russland keine selbsteinschränkenden roten Linien gibt, die man nicht zu überschreiten bereit wäre.

Damit behält Putin im gegenwärtigen Konflikt die Deutungshoheit. Diese Deutungshoheit wird unglücklicherweise nicht selten mit der - auf russischer Seite in Wahrheit nur eingeschränkt vorhandenen - Eskalationsdominanz verwechselt. Die Folgen dieser Verwechslung sind allerdings alles andere als harmlos, befördern diese doch sehr stark die russischen antiwestlichen Fake-Narrative.

Ein wohlklingender Trugschluss

Aus den genannten Gründen ist die Sorge, westliche Waffenlieferungen an die Ukraine (so nicht zuletzt die angekündigte Lieferung westlicher Kampfpanzer) müssten für den Kreml zwingend eine Grenzüberschreitung bedeuten und könnten den Einsatz taktischer Nuklearwaffen provozieren - ein wohlklingender Trugschluss, der sich aus einem überraschend mangelhaften Verständnis Russlands und seiner Macht- und Elitenstrukturen entspinnt.

So verständlich und nachvollziehbar der Wunsch nach klaren roten Linien auf westlicher Seite auch sein mag, gilt es zu beachten, dass jede Selbsteinschränkung vom Kreml als ein eindeutiges Zeichen der Schwäche ausgelegt wird und aus diesem Grunde nicht deeskalierend, sondern stark konfliktbefeuernd wirkt. Darüber hinaus ist jede einzelne auf westlicher Seite rhetorisch gezogene rote Linie willkommenes Wasser auf den Mühlen der auf Hochtouren laufenden russischen Propagandamaschine.

Die wesentliche Frage im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Atomwaffeneinsatzes durch Russland bleibt, ob die Elitengruppen rund um den Kreml-Chef eine nukleare Eskalation auch tatsächlich mitzutragen bereit wären. Das war, ist und bleibt nicht der Fall. Die Einflussmöglichkeiten der Eliten auf die Entscheidungsfindung des russischen Präsidenten hängen aber nicht nur mit dem weiteren Kriegsverlauf, sondern vor allem mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Russlands unmittelbar zusammen.

Wenn der internationale Sanktionsdruck aufrechterhalten wird und sich die wirtschaftliche und soziale Lage Russlands zuspitzt, wird Putin mehr Unterstützer aus den Reihen der gemäßigten wirtschaftsliberalen Eliten benötigen, um sein Machtsystem stabil zu halten. Und je mehr Unterstützer Präsident Putin in den Reihen der Eliten für eine Stabilisierung Russlands benötigt, umso unwahrscheinlicher wird ein Abdriften in eine personalistische Diktatur und letztlich auch der Einsatz von Atomwaffen.