Frankreich erbost die Türkei mit einem geplanten Gesetz zum Genozid an den Armeniern - die frühere Kolonialmacht sollte selbst einiges aufarbeiten.
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Kaum 600.000 Armenier leben in Frankreich - eine geringe Zahl, möchte man meinen, und dennoch bilden sie dort die größte Diaspora in Europa. Der Einfluss dieser eng vernetzten Gemeinschaft ist relativ groß. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy reicht diese Tatsache schon aus, um wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl auf Stimmensuche zu gehen. Dass es dem Staatsoberhaupt, das sich bisher hauptsächlich durch politischen Wankelmut ausgezeichnet hat, dabei um humanitäre Absichten oder gar um aufrichtiges Mitgefühl für eine verfolgte Minderheit geht, kaufen ihm nur wenige Wähler ab. Vor seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2007 hatte Sarkozy noch in populistischer Manier gegen die algerisch-französische Bevölkerung gewettert und knapp gewonnen.
Durch die scharfe Reaktion des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan kommt nun eine Debatte ins Rollen, die nicht nur Historiker, Juristen und Politiker, sondern ganze ethnische Gemeinschaften und Staaten spaltet: Ab wann kann von "Völkermord" gesprochen werden, um damit in Zusammenhang stehende Verbrechen oder deren Leugnung unter Strafe zu stellen? Viel wesentlicher ist jedoch die Frage, wie weit in die Geschichte zurückgegangen werden darf, um "Völkermord" feststellen und verurteilen zu können. Und hier scheiden sich die Geister von Wissenschaft und Politik.
Dass die in der NS-Diktatur verübten Verbrechen an Millionen von Juden, Roma und Sinti ein Genozid waren, steht zum Glück in allen Staaten der Welt außer Frage, auch wenn jede Nation unterschiedlich mit der strafrechtlichen Verfolgung von Holocaust-Leugnern umgeht. Keineswegs ist die Tötungs- und Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten mit den Gräueln in anderen Teilen der Welt vergleichbar, die sich seit der Kolonialzeit bis heute abspielen.
Vor dem Hintergrund der Zwangsvertreibung und Tötung der Armenier im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 und 1916 ist eine Kritik an den kolonialen Gewaltregimen Frankreichs in Algerien allerdings vollkommen berechtigt. Mehrere Millionen Algerier wurden seit der französischen Besetzung Mitte des 19. Jahrhunderts und während des Unabhängigkeitskriegs aus rassistischen Motiven getötet, gefoltert, verfolgt und vertrieben. Vor dieser historischen Aufarbeitung verschließen französische Regierungen und Medien bis heute die Augen, die europäischen Siedler ("Pieds-noirs") wurden rechtlich geschützt.
Doch auch die angloamerikanischen Staaten zeigen an einer öffentlichen "Völkermord"-Debatte nur wenig Interesse. Bis 2008 konnten sich australische Regierungen nicht überwinden, sich für die Entfernung, Umsiedelung und Umerziehung von mehr als 100.000 Aborigine-Kindern zu entschuldigen, die allen Zeugenberichten zum Trotz nach wie vor von vielen geleugnet werden. Auch die Amerikaner wollen sich den Vorwürfen, Massaker an der Urbevölkerung, den Native Americans, begangen zu haben, nicht stellen. "Political correctness" hat eben ihre Grenzen und ist besonders für ehemalige Kolonialmächte noch reine Ermessenssache.