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Soziologe Heinz Bude über das Bedürfnis nach mehr Anstand und die Gründe des Aufstiegs von Trump und Macron.
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Politik, die kann man nicht gegen Stimmungen machen, sagt der deutsche Soziologe und Essayist Heinz Bude. Denn Stimmungen entscheiden über Wahlen, Willkommenskulturen und politische Schicksale. Bude war auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zu Gast. Bei seinem Besuch sprach er mit der "Wiener Zeitung" darüber, wie kollektive Stimmungen entstehen, warum vor allem rechte Politiker von der derzeitigen Stimmung in westlichen Gesellschaften profitieren, warum Ereignisse wie die Silvesternacht von Köln für einen Stimmungsumschwung sorgen können und welchen Einfluss Medien auf Stimmungen haben.
"Wiener Zeitung": Sie forschen zu kollektiven Stimmungen. Wie schlagen sich diese in der Politik und der Gesellschaft nieder?Heinz Bude: Bei kollektiven Stimmungen geht es um die Frage, wie sich gefühlsmäßige Auffassungen über die Welt in der Gesellschaft verbreiten. Dafür können Medien das Netzwerk sein, aber auch das Gespräch am Gartenzaun kann eine Rolle spielen. Es muss eine gewisse Gleichgeformtheit der Themen geben. Dadurch kann man Stimmungslinien erkennen, die sich durch eine Gesellschaft ziehen. Bestimmte Fragen tauchen auf und man bleibt an ihnen mit einem wechselseitigen Interesse hängen. Zum Beispiel an der Frage: Schafft das Angela Merkel noch? Wenn sich Leute darüber unterhalten - dann redet man im Grunde nicht über Angela Merkel, sondern über die Verfassung des Kollektiven innerhalb einer Gesellschaft.
Sieht man gerade bei Merkel, wie schwankend diese Stimmungen sind? Zunächst schien es, als würde sie SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz bei der Wahl stürzen, heute schaut es umgekehrt aus.
Stimmungen sind beweglich, aber man muss versuchen, das Bewegliche vom Konstanten zumindest analytisch zu unterscheiden. Merkel arbeitet momentan ein Grundgefühl in Deutschland zu: Wenn alle um uns herum die Tendenz haben, verrückt zu spielen, dann dürfen wir das nicht auch noch machen. Deshalb ist auch die Alternative für Deutschland (AfD) im freien Fall. Da hat die Wahl von Donald Trump Merkel ungemein zugespielt.
Ganz anders ist der Fall gelagert bei Emmanuel Macron, der in Frankreich die Präsidentenwahl gewonnen und dessen Partei auch bei der Parlamentswahl triumphiert hat. Hier wurde die Veränderung gewählt. Wenn man versucht, das mit dem Instrument der Stimmungen zu analysieren, was hat Macron getragen?
Der große Erfolg von Macron beruht darauf, dass er ein großes Unbehagen der französischen Gesellschaft mit sich selber aufgegriffen hat. Es gibt neue Gruppen in Frankreich, eine neue technokratische Elite, die weiß, dass es mit der Planification (der zentralistischen französischen Wirtschaftsplanung, Anm.) nicht mehr so weitergeht, es Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt geben muss. Macron hat diesen Ton angeschlagen, dass es im Grundsätzlichen einen Änderungsbedarf gibt. Allerdings wissen wir nicht, wie das ausgehen wird. Es sieht danach aus, dass es eine revisionsbereite Administration und den dementsprechenden politischen Willen geben wird. Gleichzeitig konstituiert sich aber die Straße. Und diese ist nicht ganz ungefährlich.
Aber wie weit kommt denn auch von Macron von der Straße? Sie schreiben in Ihrem Buch "Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen" von einem Aufstand der Piazza gegen den Palazzo, wie sie sich etwa auch in Italien in der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo zeigt. Oder auch den Aufstieg von Donald Trump kann man dazu zählen. Macron ist zwar ein ganz anderer Politiker, kein Populist, sondern ein glühender Pro-Europäer, aber auch er hat ja kaum Berufspolitiker in seinem Team, sondern holt sozusagen Leute von der Straße ins Parlament.
Ursprünglich war auch Macron Teil dieser Bewegung. Er profitierte von der Polarisierung der französischen Republik, indem er sich als Kandidat inszenieren konnte, der diese Polarisierung wahrnimmt und einen Schritt darüber hinaus gehen will. Damit ist eine totale Revision des Parteienwesens verbunden. Die Sozialistische Partei existiert quasi nicht mehr, und mittelfristig sieht man auch nicht, wie die Konservativen wieder zusammenfinden sollen. Insofern hat tatsächlich etwas Trumpistisches stattgefunden. Allerdings: Macron ist auch ein starker Vertreter der Administration. Frankreichs Republikanismus ist immer auch einer der Exzellenz. Macron hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er diese Exzellenz der Administration stärken will - durch Leute, die nicht aus dem Zentrum kommen. Insofern ist er total französisch.
Sie unterscheiden ja auch zwischen epochalen und augenblicklichen Stimmungen. Bei all den Verwerfungen, die wir derzeit erleben - ist ein Überdruss mit dem Bestehenden derzeit die epochale Stimmung?
Es gibt eine allgemeine Stimmung, dass in den letzten 30 Jahren vielleicht etwas falsch gelaufen ist. Die Grundbotschaft des Neoliberalismus lautet ja: Eine gute Gesellschaft ist eine Gesellschaft starker Einzelner. Politik muss daher den Einzelnen stärken und nicht in Kollektiven denken. Ausdruck fand das in dem Satz von Margaret Thatcher: "There is no such thing as society." Diese Grundidee, die Einzelnen in ihren Kompetenzen und Verhandlungsmöglichkeiten zu stärken, ging bis Tony Blair und Gerhard Schröder. Jetzt stellen die Bürger dieses Modell in Frage und kommen zu dem Ergebnis: Das ist eine Illusion. Auch starke Einzelne werden sich in der heutigen Welt nicht mehr halten. Und das Ergebnis, das wir nun sehen, ist eine wachsende Ungleichheit. Immer mehr Leute haben das Gefühl, dass sie der Schutzlosigkeit preisgegeben sind. Wofür war das gut? Die Geldmenge hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Aber wollen wir das? Dieses Gefühl, diese Bilanzierung, dass wir an einem Ende ohne Anfang stehen, hat zunächst rechts abgegriffen und nicht links, das muss man realistisch so sehen.
Warum haben die rechten Parteien profitiert?
Die gesamte Linke in der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die aus 35 westlichen Staaten besteht, Anm.) hat in den letzten 30 Jahren im Grunde die Stärkung subjektiver Rechte, etwa sexueller Selbstbestimmungsrechte, als ihr Modell der Weiterführung von Gesellschaft entdeckt. Sie hat dabei die Idee der verallgemeinerbaren Interessen und des kollektiven Willens auf sich beruhen lassen, weil sie diese im Zweifelsfall für eine konservative Idee gehalten hat. Und jetzt tauchen diese Kollektivinteressen wieder auf - das trifft die Linke blank, weil sie keinerlei Vokabular dafür hat.
Was wären solche Kollektivinteressen?
Es besteht etwa ein Kollektivinteresse an der Herstellung einer gewissen Anständigkeit in der Gesellschaft. Dass man nicht nur sagt: "Ich bin schlau, ich habe gezeigt, wie es geht." Sondern dass man sagt: "Es gibt einige, die tun auch viel und bemühen sich, um über den Tag zu kommen. Jetzt kannst du nicht sagen, dass du so viel mehr wert bist als die." In Deutschland kann man das sehr schön an den Umfragen ablesen: Über 80 Prozent der Deutschen sind relativ zufrieden mit ihrer persönlichen Situation. Aber fast der gleiche Prozentsatz der Befragten sagt, dass im Ganzen etwas nicht stimmt. Dieses Korrekturbedürfnis nach dem Neoliberalismus ist das Thema der Rechten gewesen.
Aber wenn wir hier nun Trump als Beispiel nehmen - ist er nicht der Gipfel des Neoliberalismus? Er inszeniert sich als der stärkste Einzelne überhaupt.
Ja, genau. Und Trumps Aufstieg ist nun ein Problem für Schulz. Weil jetzt wollen die Leute Ruhe haben. Wenn das das Ergebnis ist, dass sich die Politik auf gewisse Weise dezivilisiert, dann geht das den Leuten zu weit.
Aber wie kann der Aufstieg, der Wahlsieg von Trump erklärt werden?
Meiner Ansicht nach hat die Sanders-Linke (Anhänger des demokratischen Kandidaten Bernie Sanders, Anm.) Trump in gewisser Weise auf dem Gewissen, weil diese Leute nicht zur Wahl gegangen sind. Sie haben Hillary Clinton als Kandidatin des Kapitals abgelehnt.
Kann sich nun in den USA die Stimmung gegen Trump wenden?
Ja. Und zwar deshalb, weil mit Robert Mueller (Ex-FBI-Chef, Anm.) nun ein Typ, der in Vietnam war, hochdekoriert ist, vor niemandem Angst hat und auch noch Mueller heißt, die Russland-Connections bis hinauf zum Präsidenten untersucht.
Aber prallen die Vorwürfe gegen Trump nicht an dessen Anhängern ab? Befinden sich diese nicht in einer Stimmungsblase?
Das schon, aber die Trump-Anhänger sind nicht mehr wichtig für die Mehrheitsbildung in der amerikanischen Stimmungsgesellschaft. Nur noch etwa ein Viertel hält etwas von ihm.
Herrscht nicht generell immer auch ein gewisser Wettstreit der Stimmungen? Es gibt ja nicht nur eine herausragende Stimmung.
Klar. Das ist auch gut so. Pluralismus heißt ja, dass man Verschiedenes aufgreifen kann. Martin Schulz hat beispielsweise am Anfang sehr gut diesen Zwiespalt in der Gesellschaft aufgegriffen: Dass die Mehrheit der Bevölkerung mit ihrer persönlichen Situation zufrieden ist, aber Probleme im Ganzen sieht. Dann hat er aber den großen Fehler gemacht, nur mehr über das Ganze und nicht mehr über Einzelne zu reden. Er hätte früher mit einem zweiten Begriff arbeiten müssen, der den Gerechtigkeitsbegriff trägt. Schließlich hat er die Innovation als zweiten Begriff eingeführt. Aber das war viel zu spät und ein ganz schlechter Begriff. Die Leute wollen, dass ihre Leistungen positiv bewertet werden, und fordern gleichzeitig einen gewissen Anstand in der Gesellschaft. Hätte er früh den Sorge- mit dem Leistungsbegriff verbunden, dann hätte das, glaube ich, der Kanzlerin wirklich Schwierigkeiten gemacht. Schulz wurde aber nach etwa einem Monat nur noch als Klageformel wahrgenommen. Die Leute wollen jedoch nicht herumklagen, sondern an einer Zukunft arbeiten.
Kann es jetzt noch zu einem Stimmungsumschwung zugunsten von Schulz kommen?
Es kann noch alles Mögliche passieren, aber nach der augenblicklichen Lage der Dinge: Nein.
Wie sehr können generell einzelne Ereignisse Stimmungen beeinflussen? Zum Beispiel hat ja die Silvesternacht von Köln die Migrationsdebatte verändert.
Köln ist ein Beispiel für einen Stimmungsumschwung. Die Kommunikationswissenschafterin Elisabeth Noelle-Neumann hat die Theorie der Schweigespirale entwickelt, mit der sich solche Entwicklungen sehr gut beschreiben lassen. Es gab eine Menge Leute, die sagten: "Uns gefällt das nicht mit den Flüchtlingen. Aber ich will nicht als Rassist erscheinen, ich halte mal lieber den Mund." Angesichts von Köln können die nun sagen: "Das habe ich immer schon gesagt." Wenn man ihnen entgegnet, dass sie das nie gesagt haben, antworten sie: "Ich habe es aber immer gemeint. Du hast es mich nur nicht sagen lassen!" Somit haben wir eine Stimmung der Gereiztheit, die hochgeht. Gleichzeitig sind diejenigen, die die Hilfsbereitschaft und Aufnahmekultur getragen haben, nach Köln in Selbstzweifel geraten und haben wiederum gesagt: "Spielt Religion wirklich keine Rolle? Dass Frauen sich zu Silvester nicht mehr frei bewegen können - das wollen wir doch eigentlich nicht." Diese Situation hat dazu geführt, dass die Empfangskulturfraktion in die Schweigespirale gegangen ist und die Kritikfraktion ist aus dieser herausgekommen. Und dieser Austausch in der Schweigespirale ändert Stimmungen.
Wie weit können dabei Medien Stimmungen erzeugen, Stimmungen machen? Laut einer breit angelegten Untersuchung der Hamburg Media School waren im Herbst 2015, als die Willkommenskultur in Deutschland am Höhepunkt war, 82 Prozent aller Medien-Beiträge zur Flüchtlingsthematik positiv konnotiert gewesen, zwölf Prozent rein berichtend, sechs Prozent haben die Flüchtlingspolitik problematisiert. Laut einer Studie des Allensbachs-Instituts im gleichen Zeitraum meinte eine Mehrheit der Befragten, dass sie von den Medien einseitig und nicht korrekt informiert wurde.
Ich würde den Medien eine Verstärkungs-, aber keine Eruierungsfunktion zuordnen. Ich glaube nicht, dass Medien Stimmungen beliebig machen können. Aber sie können Stimmungstendenzen verstärken, indem sie eben auf Irritationen nicht eingehen. In Deutschland hat es etwa immer wieder geheißen, Viktor Orban sei schuld, der ist gegen die deutsche Flüchtlingspolitik. Ich kannte einen Journalisten in Brüssel, der sagte: "Das stimmt überhaupt nicht." Auch die Franzosen waren dagegen, selbst die Niederländer hatten damit Probleme. Das wurde als eine Art imperialistischer Moralismus vonseiten Deutschlands verstanden. Das kam aber nicht ins Blatt. Das ist ein Stimmungseffekt, dass ein Blatt nicht mehr so berichtet, wie die Dinge liegen, weil die Medien etwa der Kanzlerin nicht in den Rücken fallen wollen. Die Situation war ja so, dass lange Zeit auch das Hauptboulevardblatt in Deutschland, die "Bild"-Zeitung, mit der Kanzlerin gearbeitet hat und fast zu spät gemerkt hat, dass es mit seinem Publikum mitgehen muss. Es ist also so, dass eine labile Stimmungskonstellation im Publikum vorhanden ist und von den Medien auf verschiedene Weise aufgenommen werden kann. Das ist wichtig, auch für die Politik: Sie können keine Politik gegen latente Stimmungen machen, sondern nur mit ihnen.
Aber welche Rolle spielen hierbei soziale Medien, die Emotionen schnell befeuern können? Welchen Einfluss haben sie auf Stimmungen und die Demokratie?
Ich glaube, deren Einfluss wird überschätzt. In einer modernen Gesellschaft sind viele Verrückte unterwegs, und es sind, etwa in Leserforen von Zeitungen, immer wieder dieselben Verrückten, die immer und immer wieder Hasskommentare schreiben. Das sind Katakombenstrukturen der Selbstvergewisserung. Wenn allerdings unvorhergesehene Ereignisse eintreten, die eine Kommentierung brauchen, kann die Rolle der sozialen Medien sehr wichtig sein. Etwa bei dem Terroranschlag in Berlin, bei dem ein Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt gefahren ist (damals wurden elf Menschen getötet, Anm.), gab es im Netz eine sehr interessante Diskussion darüber, dass man überhaupt nicht über die Opfer geredet hat. In Frankreich etwa eilt der Regierungschef sofort zu den Familien der Opfer und man kennt die Opfer und ihre Familien. In Deutschland drehte sich die Hauptdiskussion der Medien darum, dass es jetzt keine fremdenfeindlichen Reaktionen geben darf. Daraufhin hat das Netz diese Debatte aufgebracht, dass die Menschen die Opfer beklagen wollen, dass sie das schmerzt, dass sie diesen Terrorwahnsinn nicht hinnehmen wollen. Die sozialen Medien haben hier eine Befeuerungsrolle auch in der Hinsicht, dass sie Reaktionen legitimieren, die bei den Printmedien und im Fernsehen aufgrund politischer Zurückhaltung und des Emotionsmanagements nicht so deutlich wahrgenommen werden.
Besteht hier die Gefahr, dass sich die Bürger von Politik und Medien entfremdet fühlen, wenn sie ihre Stimmungen nicht wahrgenommen sehen?
Ja, aber das war immer schon so in Ihrem Gewerbe. Sie brauchen Medienschaffende, die eine Nase für Stimmungen haben. Und durch die Political-Correctness-Logik hat das ein wenig abgenommen. Es braucht aber auch Medien, die diese nicht mitmachen. Das ist wichtig, denn sonst sind Medien nicht mehr Repräsentanten von Stimmungen einer Gesellschaft - und wenn sie Stimmungen nicht mehr repräsentieren, dann können sie sie auch nicht mehr formen. Sonst führt es genau zu dem Effekt, wonach die Leute zu dem Schluss kommen, dass ihr Leben und ihre Vorstellungen in den Medien nicht mehr vorkommen.
Ist das dann die Steilvorlage für Populisten?
Na klar. Das kennen wir ja schon von Jörg Haider, diese Rhetorik: "Ich rede für euch, weil sonst niemand für euch redet."
Zur Person
Heinz Bude
ist einer der bekanntesten Gegenwartssoziologen Deutschlands und lehrt an der Universität Kassel. Zudem ist er seit 1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und seit 1997 dort Leiter des Arbeitsbereichs "Die Gesellschaft der Bundesrepublik". Bude hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt "Das Gefühl der Welt" und davor "Gesellschaft der Angst".