Die Wiener eignen sich Ausdrücke aus anderen Regionen an und kreieren eine passende Etymologie - sie muss nicht stimmen.
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Vor kurzem hat sich die Tageszeitung "Der Standard" in einer Serie mit den Minderheitensprachen in Österreich befasst - und mit den Spracheinflüssen aus unseren Nachbarländern. Dort habe ich gelesen, dass das im Wienerischen weit verbreitete Wort Netsch (kleiner Geldbetrag) aus dem Ungarischen stammt. Dort bedeutet négy so viel wie "vier". Es wird gesprochen wie nedj, für uns klingt es wie netsch. Nach dieser Theorie war damit ursprünglich die ungarische Vier-Kreuzer-Münze gemeint: Négy Krajcár.
Auch ich habe das lange geglaubt. Dann habe ich zu zweifeln begonnen: Warum gerade die ungarische Vier-Kreuzer-Münze? Das war ja keine besonders kleine Münzeinheit, es gab sogar Münzen im Wert von einem Viertel-Kreuzer.
Bei den Recherchen für mein neues Buch "Wiener Wortgeschichten" hat sich dann herausgestellt, dass die Herleitung aus dem Ungarischen nicht stimmt. Roswitha Denk, Kustodin im Münzkabinett des Kunsthistorischen Museums Wien, hat mir kurz vor Drucklegung den entscheidenden Hinweis gegeben. Bei Einführung des Kreuzers in Tirol um 1270 hatte diese Münze einen Gegenwert von 20 damals schon stark entwerteten "Veronesern", also Kleinmünzen, die "von der Etsch" kamen. Dadurch ist die Bedeutung Kleingeld, geringer Geldbetrag entstanden. Auf diese Verbindung hat bereits vor einiger Zeit der Historiker Wolfgang Häusler in einer wissenschaftlichen Publikation hingewiesen.
Ich habe dann in dem wichtigsten Wörterbuch des Tirolerischen nachgeschlagen: dem "Wörterbuch der Tiroler Mundarten" von Josef Schatz, erschienen 1955/56, auch heute noch als Nachdruck erhältlich. Unter Etsch findet man den Vermerk "Etschkreuzer, im 16. Jahrhundert eine in der Steiermark übliche Münze".
Im Tuxertal ist Etschn ein kleingewachsener Mensch. Anschließend wird auf eine Nebenform verwiesen: Netschn. Blättert man weiter zu Netsch, so liest man: "kleine Münze, ein Wort der Gaunersprache". Netschn wird im Tuxertal für etwas "verkrüppelt Gewachsenes" gebraucht.
Der Grazer Staatsanwaltsstellvertreter Hans Groß vermerkt in seinem 1906 erschienenen "Handbuch für Untersuchungsrichter" die Wörter Nedsch und Nedscher mit der Bedeutung Kreuzer - er ist auf dieses Wort in Gesprächen mit Häftlingen gestoßen. Auch Kreuzer sind ja gleichbedeutend mit einer kleinen Münzeinheit: "Um die paar Kreuzer will ich mich nicht mit dir streiten."
So ist also Etsch und Netsch aus dem Tirolerischen nach Wien gelangt, vielleicht auch über das Steirische, und die Wiener haben sich den gaunersprachlichen Begriff angeeignet und glauben, er stammt aus dem Ungarischen.
In der Wiener Alltagssprache bedeutet Netsch bis zum heutigen Tag so viel wie Kleingeld, kleine Geldmenge. Wenn jemand sagt: "Das kost ma meine letzten Netsch", dann meint er "Das geht an die Grenzen meiner finanziellen Möglichkeiten". Wenn jemand mit seiner Arbeit "nua a poa Netsch verdient", dann ist er schlecht bezahlt.