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Wohin die USA 20 Jahre nach 9/11 ihre Kräfte verschieben

Von Klaus Huhold

Politik
Noch immer prägen dei Anschläge von 9/11 die Weltpolitik.
© Corbis via Getty Images / Masatomo Kuriya

Der Abzug aus Afghanistan ist eine Zäsur. Künftig steht das geopolitische Duell mit China im Mittelpunkt.


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Der Anschlag am Kabuler Flughafen war eine äußerst grausame Ironie der Geschichte: Denn die fast 200 getöteten Menschen, die mitten im chaotischen Abzug aus Afghanistan Ende August ihr Leben ließen, machten klar, dass die Taliban und die USA nun einen gemeinsamen Feind besitzen: den Islamischen Staat (IS). Das bedeutet, dass die Vereinigten Staaten wohl ausgerechnet mit jenen Islamisten zusammenarbeiten müssen, wegen denen sie einst am Hindukusch einmarschiert sind und deren Innenminister Siradschuddin Hakkani noch immer auf Fahndungslisten des FBI als einer der meistgesuchten Terroristen aufscheint.

Doch die Taliban sind nun das kleinere Übel als der IS. Und den USA bleibt wenig anders übrig, als eine Kooperation mit den selbsternannten Gotteskriegern zu suchen, solange diese an der Macht sind - hat der Westen doch nun auch viele Geheimdienstkontakte nach Afghanistan verloren. US-Diplomaten und Führungskräfte der Taliban kennen sich ohnehin schon aus unzähligen Verhandlungsrunden, die sie rund um den US-Abzug in Luxushotels in Katar führten. Den Taliban wiederum winkt mehr Ruhe für den Aufbau ihres Emirats, wenn sie keinen Terror exportieren.

Den Hintergrund dieser bizarren und wirren geopolitischen Konstellation bilden noch immer die brennenden, einstürzenden Türme des World Trade Centers. 20 Jahre nach dem Anschlag, der nicht nur New York, sondern die gesamte Weltordnung erschüttern sollte, hat US-Präsident Joe Biden mit dem Ende der Afghanistan-Mission eine Zäsur gesetzt.

Die Bilder des Abzugs aus Kabul waren verstörend - eingebrannt in das geschichtliche Gedächtnis hat sich wohl die fürchterliche Szene, als sich verzweifelte Menschen, die den Taliban in letzter Sekunde entkommen wollten, an ein abhebendes Flugzeug klammerten und in den Tod stürzten. Für viele Kommentatoren waren dies ein Fanal für das Ende der Weltmacht USA.

Ob dem tatsächlich so ist, ist aber eine rein spekulative Frage: Auch nach der überstürzten Flucht aus Saigon nach dem Vietnam-Debakel prophezeiten viele den Untergang der USA. Den Kalten Krieg haben sie am Ende trotzdem gewonnen.

Klar erkennen lässt sich aber bereits, wohin sich die Interessen und politischen Schwerpunkte der USA verschieben. Denn das hat Biden selbst bei seiner Rede zum Abzug deutlich gemacht. Demnach ging es bei dieser Entscheidung "nicht nur um Afghanistan. Es ging darum, eine Ära der Militäroperationen zu beenden, durch die andere Länder umgestaltet werden sollen." Mit den Erfahrungen in Afghanistan und auch im Irak ist damit die Idee gestorben, Staaten durch den Aufbau von Institutionen näher an sich zu binden, so dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen und dadurch auch eigene Militäreinsätze zu rechtfertigen.

Künftig wollen sich die USA am Hindukusch und offenbar auch im Nahen Osten nur mehr auf ihre Kerninteressen konzentrieren: Das ist vorrangig die unmittelbare Bekämpfung des Terrorismus. Dafür braucht es laut Biden keinen Staatsaufbau, und auch "keine Bodentruppen mehr". Vielmehr setzen die USA dabei nun auf Drohnenangriffe, die sie ohnehin schon breitflächig gegen Terrorzellen einsetzen.

Noch ein weiterer Umstand hat die Position der USA verändert: der Schieferöl-Boom im eigenen Land. Die Vereingten Staaten sind mittlerweile selbst der größte Ölförderer der Welt und damit in ihrem Energiehunger immer weniger von Lieferungen aus dem Nahen Osten abhängig. Damit verlieren auch Staaten wie der Irak, wo das US-Militär nach Afghanistan einmarschiert ist, an strategischer Bedeutung.

Somit bekommt Washington militärische Kapazitäten und politische Ressourcen frei, um in einer veränderten Welt neuen Herausforderungen zu begegnen. Sein Land müsste sich den Bedrohungen durch Russland stellen, sagte Biden. Zudem befände es sich "in einem ernsthaften Wettbewerb mit China".

Vor allem die Volksrepublik sorgt für Unruhe in der US-Politik. Joe Biden unterscheidet sich zwar in Nuancen und im weniger rüpelhaften Ton in seiner China-Politik von Donald Trump, seine Ansicht ist aber mehr oder weniger dieselbe: Dass China der große strategische Rivale der Vereinigten Staaten ist, der die globale Vormachtstellung der USA bedroht.

Tatsächlich betrachtet China die Kriege in Afghanistan und im Irak - genauso wie die Finanzkrise 2008 - als Beispiel für den Niedergang des Westens. In den Augen Chinas habe "eine neue Ära der Multipolarität begonnen, die China mehr nach seinem Gutdünken gestalten kann", schreibt die renommierte China-Analyst Jude Blanchette von der US-Denkfabrik "Center for Strategic and International Studies" im Magazin "Foreign Policy". Partei- und Staatschef Xi Jinping wolle nun die Gelegenheit nutzen, China auf der Weltbühne weiter emporzuheben, bevor sich die USA erholen und wieder mehr Stärke gewinnen.

Somit bahnt sich ein immer härterer Wettbewerb zwischen der etablierten und der aufstrebenden Weltmacht an. Dabei geht es um wirtschaftliche Einflusssphären, um militärische und geopolitische Macht. Beispielhaft zeigt sich das im Südchinesischen Meer: Dort erhebt China umstrittene Gebietsansprüche, während die USA ebenfalls mit ihrem Militär präsent sind und sich als Ordnungsmacht verstehen. Allein der Umstand, das laut UNO rund 30 Prozent des Welthandels durch dieses Meer gehen, macht deutlich, welche Brisanz in diesem Konflikt steckt.

Aber auch ganz prinzipiell will China die von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg geprägte und derzeit dominierte Weltordnung nicht mehr so akzeptieren. Peking sucht deshalb immer mehr Einfluss in UN-Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und baut gleichzeitig Parallelinstitutionen wie die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank auf, die ein Gegengewicht zur Weltbank bilden soll. Gleichzeitig unterminiert die Volksrepublik den Liberalismus ideologisch: Chinesische Offizielle propagieren, dass das westliche Demokratiemodell nicht über dem autoritären Ein-Parteien-Staat der Volksrepublik stehe. Und Menschenrecht sei zu allererst nicht Rede- und Meinungsfreiheit, sondern keinen Hunger zu haben.

Das spiegelt sich auch im Umgang Chinas mit anderen Staaten wider. Er ist vor allem pragmatisch. Die Volksrepublik sucht Stabilität und will keine Werte vermitteln, sie sucht Rohstoffe und Wachstumsmärkte für die eigenen Unternehmen und bringt dafür Schienennetze, Straßen und Häfen. China sieht sich als Vorbild bei der Armutsbekämpfung und knüpft gleichzeitig durch die Vergabe von Krediten ein Netz von Abhängigkeiten.

Genau hierfür könnte nun Afghanistan ein Beispiel werden: Die Taliban werfen sich China fast schon an den Hals, sprechen mittlerweile vom "wichtigsten Partner". Auch das ist einigermaßen wirr, sind doch gerade in China mit den Uiguren moslemische Glaubensbrüder harten Repressionen ausgesetzt und sitzen in Umerziehungslagern ein. Aber China, das bereits Schürfrechte für die Kupfervorkommen in Afghanistan besitzt, könnte Investitionen bringen, ohne sich etwa um Frauenrechte zu kümmern - diese sind für Peking eine innere Angelegenheit.

Peking zögert jedoch noch, zu instabil ist die Lage in dem Nachbarland. Sollte hier aber wirklich eine Partnerschaft entstehen, kann der Westen wieder einmal zuschauen, wie ein Staat mehr und mehr aus seinem Einflussbereich entschwindet.

Immer wieder zwischen den Stühlen sitzt in dieser Weltordnung Europa. Es ist traditionell ein Partner der USA und sieht China mittlerweile ebenfalls als strategischen Rivalen an. Gleichzeitig kann sich die EU, auch weil sie weniger geopolitische und auch wirtschaftliche Druckmittel als die USA besitzt, nicht so einen Konfrontationskurs gegen China wie Washington leisten. Ohnehin meinen viele Ökonomen, dass der Austausch mit China die einzige wirtschaftliche Wachstumschance für Europa darstellt.

Und das Chaos am Hindukusch droht Europa noch viel härter zu treffen als die USA. Denn diese sind allein schon aufgrund ihrer geographischen Lage besser vor Anschlägen geschützt und müssen sich um Flüchtlingsbewegungen nicht scheren, weil sie damit nicht konfrontiert sind.

Biden betonte, dass die USA ihr Ziele beim Afghanistan-Einsatz erreicht hätten. Osama bin Laden wurde getötet und von Afghanistan gehe keine Terrorgefahr mehr für die USA aus. Auch viele US-Analysten sehen den Krieg gegen Terror als Erfolg an, weil es seit dem 11. September 2001 keinen größeren islamistischen Anschlag in den USA gegeben hat.

Ganz anders sieht es in Europa aus, der Kontinent hat verheerende Anschläge erlebt - die Madrider Zuganschläge 2004 mit 191 Toten und die Pariser Terrornacht 2015 in Bars und Lokalen sowie der Konzertlocation Bataclan mit 130 Todesopfern seien hier nur stellvertretend erwähnt. Noch viel schlimmer ist die Lage im Nahen Osten und am Hindukusch selbst: Dort herrscht in vielen Regionen eine ständige Anschlagsgefahr, lassen sich die zehntausenden Opfer der unzähligen Anschläge gar nicht mehr richtig zählen. Darüber hinaus hat der Anti-Terror-Krieg selbst, etwa bei Drohnenneinsätzen, immer wieder zivile Todesopfer gefordert. Ob der Kampf gegen Terror erfolgreich war, ist 20 Jahre nach 9/11 somit eine Frage des Blickwinkels - und der geographischen Lage.