Pünktlich zu Jahresbeginn 2014 beginnt wieder eine Diskussion über die "Finalität" Europas, insbesondere der EU.
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Manche Kommentatoren bemühen das Gedenken an 1914, als angeblich niemand wusste, worauf er sich mit seinen Kriegstreibereien einließ - naja. Aber natürlich ist es legitim, sich über Europa Gedanken zu machen, besonders bei der aktuellen Ausgangslage. Hans-Werner Sinn (Project Syndicate) spricht sich für ein gemeinsames politisches Europa als absolute Voraussetzung für die gemeinsame Währung aus und schlägt als Zwischenschritte eine "atmende" Währungsunion vor, aus der man aus- und eintreten kann, eine Schuldenkonferenz, die den Schuldnerländern Teile ihrer nicht rückzahlbaren Schulden nimmt, ein Länderinsolvenzrecht sowie eine Bilanzbeschränkung für die nationalen Notenbanken.
Dagegen preist der "Zeit"-Redakteur und frühere Brüssel-Korrespondent Jochen Bittner den britischen Premier David Cameron für dessen versprochenes EU-Austrittsreferendum 2017 mit dem Argument, Europas Bürger wollten die scheinbare Automatik eines "immer mehr Europa" nicht. Die Engländer (wen genau meint Bittner?) wollten von "Europa" nur mehr Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilität und Mitsprache nationaler Parlamente und die Rückführung von Kompetenzen aus Europa nach Großbritannien.
So weit, so gut oder schlecht. Sinn spricht primär die Dysfunktionalitäten der Regierungsstruktur der Eurozone an, will aber mehr Integration, Bittner gibt dem nationalistischen Gefühl der Euro-Gegner nach und will weniger Europa.
Keiner der beiden spricht aber die grundlegenden Defizite der EU-Wirtschaftspolitik an, die zu massiver Arbeitslosigkeit, Ausweglosigkeit für junge Arbeitnehmer, extremen Einkommensungleichheiten, sinkenden Lohnquoten, massiver Steuerflucht durch multinationale Konzerne und reiche Privatpersonen, Investitionszurückhaltung bei Realinvestitionen und massiver Aufblähung eines nicht der Wirtschaft dienenden Finanzsektors und letztlich zu ideologisch motivierter Zurückdrängung des Staats auch aus seiner Verantwortung für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung führten. Ob man das als "neoliberale" Revolution, "mehr Markt, weniger Staat" oder "Entfesselung der Wirtschaft" bezeichnet, ist einerlei.
Fakt ist: Die EU, die Kommission wie auch der Rat, hat sich diesem Paradigma angeschlossen und macht trotz der tiefsten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren weiter wie bisher. Das wichtigste, mit stärkster Bindungswirkung versehene Instrument ist die zu einem Ziel aufgeblasene Budgetkonsolidierung des Staates, unterfüttert mit "Flexibilisierungen" auf allen Gebieten. Natürlich zählen ausgeglichene Budgets und niedrige Staatsschulden zu wichtigen Determinanten, doch kommen sie im klassischen "magischen Viereck der Wirtschaftspolitik" (hoher Beschäftigungsgrad, Wirtschaftswachstum, niedrige Inflation, ausgeglichene Leistungsbilanz) nicht vor.
Solange es nicht zu einem grundlegenden Wandel der europäischen Wirtschaftspolitik in Richtung der Verbesserung der Lebenssituation der meisten EU-Bürger kommt, nützen alle kosmetischen oder auch radikalen Änderungen der institutionellen Ausgestaltung der EU nichts.