Vor 100 Jahren starb mit Jules Massenet der Meister der eleganten, anti-modernen Oper der französischen Jahrhundertwende, die mit "Manon" und "Werther" lebendig geblieben ist.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Komponist der Frauen" hat man ihn genannt, sein künstlerisches Œuvre wurde als "weibliche" Musik bezeichnet. Es war nicht als Kompliment gemeint. Manche Rezensenten gingen noch weiter: Schien ihnen eine Oper geschmäcklerisch, sentimental oder gar kitschig, so fiel sein Name: Es klinge nach Massenet. Untergriffe dieser Art waren vereinzelt schon zu des Komponisten Lebzeiten vernehmbar.
Renée Fleming hingegen outet sich im Katalog der Massenet-Jubiläums-Ausstellung der Pariser Oper im heurigen Frühjahr so: "Ich liebe die Musik Massenets über alles . . . Er liebte Sopranstimmen, wie vielleicht nur noch Richard Strauss, der ihm so viel verdankt . . . " Solche Vokal-Passionen der Sänger-Stars locken das Publikum: Wenn der französische Melodien-Schmeichler Massenet auf dem Programmzettel aufscheint, freuen sich Fans auf Sopran- und Tenor-Festspiele.
In manchen Pausengesprächen freilich geht das nasenrümpfende Lamento weiter. Die Vorwürfe: Massenets Musik bediene sich einer Überdosis französischen Charmes und versprühe zu schweres Parfüm. Doch melden sich stets auch seine Anhänger zu Wort: so jene, für die etwa die Szene in St. Sulpice im dritten Akt der Oper "Manon" schlicht die pure, blutvolle Quintessenz des Genres Oper verkörpert.
Der Ideologienstreit Massenet-Süchtige contra Spötter wird wohl weitergehen. Doch, abgesehen vom Werk: Seine Lebensumstände vermögen vielleicht beide "Parteien" zu interessieren. Und: Sie sind von Österreich-Bezügen durchwoben.
Ein Vorzugsschüler
1842 wird Jules als Jüngstes von zwölf Kindern geboren: Seine männlichen Vorfahren sind Mathematiker, Offiziere, ein Großvater wirkt als Geschichtsprofessor in Straßburg.
Jules Vater, Alexis, ist promovierter Bergbauingenieur der Bergakademie in Freiberg in Sachsen und hat eine zwölfköpfige Kinderschar. Jules nennt man den Benjamin, der am 12. März 1842 in Montaud, im Loiregebiet, nahe der Industriestadt St. Etienne, auf die Welt kommt: "Unter dem Taktschlag der Hämmer", wird er später erzählen - denn der Vater strebt nach einer Offizierskarriere unter Napoleon den zivilen Rang des Industriekapitäns an. Er gründet eine Sichel- und Sensenfabrik, für die er sich einen Facharbeitertrupp eigens aus Tirol holt. Frankreich kann sich dadurch von einer drückenden Importabhängigkeit befreien, alleine 1815 muss man 800.000 Stück Sensen einführen, unter anderem aus der Steiermark.
Um den Kindern eine adäquate Ausbildung zu ermöglichen, zieht die Familie nach Paris. Die hochgebildete Mutter gibt ihrem Sechsjährigen just am 24. Februar 1848 die erste Klavierstunde: Ein Tag, der dem Kind in Erinnerung bleiben wird: Schon zum Frühstück stürzt das Dienstmädchen unter dem aufgeregten Ruf "Aux armes citoyens" in das Zimmer . . . Die Juli-Monarchie ist gefallen - doch die Mutter lässt sich nicht vom Unterricht abbringen.
Jules ist begabt. Er wird in die Klavierklasse des Konservatoriums aufgenommen - und er liebt den Unterricht dort fanatisch. Dann siedelt die Familie wegen der angeschlagenen Gesundheit des Vaters nach Savoyen, in das Städtchen Chambery. Doch das Kind ist unglücklich. Es vermisst das Pariser Konservatorium schmerzlich. 1854 reißt der 12-Jährige von zu Hause aus. Ziel: Paris. Sechs Stunden geht der Knabe zu Fuß, mit einem "Barvermögen" von 20 Sous in der Hosentasche . . .
Er schafft es bis Lyon, wo ihn ein Freund der Eltern durch Zufall aufgreift. Von einem Gendarmen eskortiert, wird er nach Hause zurückgeschickt. Dort kommen wieder Trübsinn, Angstgefühle und eine große Unzufriedenheit über ihn. Diese geht übrigens soweit, dass er mit seinem Vornamen zeitlebens hadern wird. Noch knapp vor seinem Tod notiert er: "Sollte man jemals irgendwo eine Straße oder einen Platz nach mir benennen, bitte nur: Place Massenet." Eine Marotte, vielleicht. Oder aber: Beweis seiner auch verbalen Sensibilität.
Massenet kann die Texte seiner Libretti stets auswendig. Das erleichtert ihm das Komponieren, das dann "überall" erfolgen kann: im Restaurant, auf der Straße. Wenn er Texte erstmals liest, streicht er für ihn verwertbare Stellen mit bunten Bleistiften an. So lernt er, und er lernt leicht. Vielleicht ist das mit ein Grund, dass die Eltern nach seinem Fluchtversuch schließlich nachgeben: Jules darf zurück nach Paris. Er setzt dort die geliebten Klavierstudien am Konservatorium fort, wird ein hervorragender Pianist. Seine Kompositionslehrer werden Charles Gounod und Ambroise Thomas, der auch sein Freund wird.
Italien und die Liebe
Italien wird für Massenet zum Erweckungserlebnis an der Schwelle des Erwachsenwerdens. Mit 21 Jahren darf er seine Studien mit einem gewonnenen Rom-Preis-Stipendium abschließen. Die Reise inspiriert ihn vielfältig, in Venedig lauscht er abends, wenn der Hafen schließt, den österreichischen Trompeten: sie klingen "fremdartig und schön" - er notiert die Sequenz und verwendet sie 25 Jahre später im vierten Akt der Oper "Le Cid".
In Rom begegnet er zwei eleganten Französinnen. Die Jüngere verfügt über eine Empfehlung von Franz Liszt. Da sie ihre Klavierstudien im Ausland nicht unterbrechen will, sucht sie einen Lehrer. Masssenet will in Rom nicht unterrichten, sondern nur studieren. Doch der Charme jener Mademoiselle de Sainte Marie bricht seinen Vorsatz. Zwei Jahre später wird in Avon bei Fontainebleau geheiratet. Die Begegnung mit seiner geliebten "Ninon", die er in Briefen an Dritte immer "Madame Massenet" nennen wird, lässt in seiner Musik ein Übermaß an Zärtlichkeit entstehen.
Er komponiert das "heilige Drama" "Marie-Magdeleine", das am Karfreitag des Jahres 1873 im Pariser Odéon aus der Taufe gehoben und sofort ein Erfolg wird. Georges Bizet, bereits todkrank, schreibt an seinen jungen Kollegen: " . . . unsere moderne Schule hat nichts Vergleichbares geschaffen".
Im Schlepptau der Erfolge stellen sich die offiziellen Ehrungen ein, so 1876 der Chevallier de la Legion Honneur. 15 Jahre lang unterichtet Massenet Komposition, seine Schüler sind Reynaldo Hahn und Gustave Charpentier. Den Unterricht, Dienstag und Donnerstag ab 13.30 Uhr, versteht er als generelle Kulturvermittlung: Jedem Schüler belässt er seine Persönlichkeit und seinen Stil, er lehrt sie "Töne zu setzen, wie ihr sie hört. Die Musik muss psychologisch wahr sein."
Zweimal wird ihm die Leitung des Konservatoriums angeboten, beide Male lehnt er ab. Er will unterrichten und komponieren: Es entstehen über zwei Dutzend Opern, vier Oratorien, Orchestersuiten, drei Ballette und viele Klavierstücke.
Seine Musik - auch Kritiker anerkennen in Massenet den begnadeten Harmoniker - will stets eines: Die Landschaft der weiblichen Seele erforschen, wenngleich unter Umschiffung der musikalischen Wirbelstürme der Epoche, die seine deutschsprachigen Kollegen Richard Wagner oder später Arnold Schönberg entfacht haben.
Massenet, der Anti-Revolutionär, ist ein besessener Detailarbeiter. Er kümmert sich im Theater um alles, bis hin zu den genialen Jugendstil-Plakatentwürfen von Eugène Grasset, die seine Opern-Gefühlsaufwallungen adäquat ins Bild setzen. Massenet wird Zeitzeuge zweier Weltausstellungen in der französischen Hauptstadt, der Eiffelturm wird im selben Jahr eröffnet, in dem seine Oper "Esclarmonde" uraufgeführt wird: 1889. Der technische Fortschritt seiner Epoche rast voran: Werden Massenets Postkarten in den 1870er Jahren noch mit Ballons befördert, so kann er Werk-Dialoge nach 1900 schon per Telefon abwickeln.
Scheu und umtriebig
Massenet bleibt sein Leben lang diskret, reserviert, scheu. Die Scheu wird nur durchbrochen, wenn es um musikalische Kontakte geht. Die pflegt er in Paris am liebsten bei seinem Verleger Hartmann, dessen Geschäft am Boulevard Madeleine zum Treffpunkt der neue Musikszene wird. Hier kann man Bizet, Saint-Saëns, Lalo, Franck treffen.
1881 soll Massenet für die Opéra Comique den Dreiakter "Phoebé" von Henri Meilhac vertonen, ein Auftrag, der ihm nicht recht von der Hand geht. So besucht er den Autor in dessen Wohnung in der Rue Drouot, um ihm zu gestehen, dass es mit "Phoebé" nichts werden wird. Da fällt sein Blick in der Bibliothek auf einen Band, Meilhac hakt sofort ein: "Möchten Sie Manon Lescaut machen?" "Nein, nur Manon", erwidert Massenet, der Frauen-Zentrierte. Am kommenden Tag treffen Autor und Komponist einander zum Dejeuner. Massenet findet, eingeschlagen in seine Serviette, den ersten und zweiten Akt "Manon".
Solch galante Entstehungsgeschichten mögen zu seinem Œu-vre passen. Dass man die "rührenden Momente" bei Massenet aber nicht mit Einfachheit oder gar Naivität verwechseln darf, davon wissen Dirigenten ein Lied zu singen. Seine Musik, die, ganz im Gegensatz zur beispielsweise 1902 in Paris uraufgeführten Debussy-Oper "Pelleas und Melisande", weitgehend in traditioneller Melodik verharrt, ist hochfragil. Ihr Reiz liegt in der Melange von richtigem Tempo und passend aufgetragener Klangfarbe.
Der "Werther"
Massenet, Zeitzeuge des deutsch-französischen Krieges 1870/71, scheut sich nicht, nach Bayreuth zu reisen. Am 1. August 1885 erlebt er mit seinem Verleger Hartmann dort eine "Parsifal"-Aufführung und berichtet, "nach der Aufführung dieses einzigartigen Wunderwerkes" auch noch manch anders aus französischer Perspekive: Man besucht Wetzlar, besichtigt das Haus, in dem Goethe seinen "Werther" geschaffen hat. Diesen Briefroman zu einer Oper zu "machen", ist für einen französischen Komponisten ein Wagnis. Weil die Opéra Comique in Paris einem Brand zum Opfer gefallen ist, wird "Werther" 1892 in Wien uraufgeführt. Massenet reist bereits zur ersten Klavierprobe in die habsburgische Reichshaupt- und Residenzstadt. Trotz herzlicher Aufnahme und bester Unterbringung fühlt er sich hier "allein" und ganz im Antlitz von "Verdi und Wagner".
Dann schreibt er den Seinen, er habe in Wien mit dem Prinzen Hohenlohe diniert, mit dem französischen Botschafter, mit Johann Strauß und Johannes Brahms. In dieser Reihenfolge. Und eine Sorge quält ihn: "Ganz Wien redet von meinem Werther. Aber wer wird sich in Paris darum kümmern? Alle werden in Salammbô sein, dem Ballett von Gailhard."
Die Furcht, abgelehnt oder vergessen zu werden, wirkt wie ein Animationsmotor, bis in die Tage seiner schweren Krankheit, an der er am 13. August 1912 starb. Dass diese Besorgnis letztlich unbegründet war, bewies just einer der unkonventionellsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, Francis Poulenc, mit seiner lapidaren Feststellung: "Jeder französische Musiker trägt ein wenig Massenet in seinem Herzen."
Michaela Schlögl, geboren 1960, lebt in Wien und arbeitet als freie Kulturjournalistin.