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"Wohlstand verlangt mehr EU-Integration"

Von Walter Hämmerle

Politik

Wie die neue Macht der Regierungschefs begrenzt und Europas Reichtum bewahrt werden kann, erläutert Franz Fischler.


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Die meisten EU-Debatten verlaufen nach dem Muster gute Europäer gegen schlechte Europäer. Doch das, so der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischer, sei zu simpel gedacht. Stattdessen fordert er bei Diskussionen "mehr Saft und Dampf unter dem Kessel". International würden viele Staaten auf Initiativen der EU warten, doch Europa zaudere und zögere. Um Staaten die Angst vor einer Überstimmung zu nehmen, regt Fischler eine Weiterentwicklung des "Luxemburger Kompromisses" an, um zentrale nationale Anliegen zu schützen.

Fischler feiert am 23. September seinen 74. Geburtstag. Nach der Übergabe des Forums Alpbach an Andreas Treichl im Frühjahr will er künftig "ein bisschen mehr" Vorträge halten. Große neue Aufgaben strebt der Tiroler nicht mehr an.

"Wiener Zeitung": Wann hat es begonnen, dass die Mitgliedstaaten zu den Buhmännern in der EU wurden?Franz Fischler: Ich denke nicht, dass die Staaten die Buhmänner sind. Es gibt aber einen Trend, der die nationale Komponente der Mitgliedstaaten wieder wesentlich stärkt. Und das bewirkt den Eindruck, dass nicht mehr die Kommission und das Parlament über die Politik der EU bestimmen, sondern der Klub der EU-Staaten - und hier wiederum in erster Linie die Regierungschefs.

Aber war das je anders?

Schon. Diese letzte Entwicklung hat mit dem Lissabon-Vertrag begonnen, der Ende 2009 in Kraft trat und die Position der Mitgliedsstaaten massiv stärkte. Bis in die 2000er Jahre hinein hatte sich die EU in die richtige Richtung einer Union entwickelt. "Lissabon" machte aus dem Europäischen Rat, der bis dahin ein informelles Organ war, ein formelles; und mittlerweile tut er immer öfter so, als ob die Staaten alles entscheiden und die Diskussionen im Parlament reine Formalität seien. Das ist eine falsche Entwicklung. Wir haben das ursprüngliche Prinzip, wonach alles einstimmig zu beschließen ist, bis heute nicht völlig in das eigentlich demokratische Verfahren des Mehrheitsbeschlusses überführt. In der EU gilt nicht nur in der Außen- und Sicherheitspolitik Einstimmigkeit, sondern auch in vielen weiteren Bereichen, etwa bei Steuern oder Wasser.

Aber ist der Druck zu Einstimmigkeit nicht in Wirklichkeit ein politisches Mittel, um Zusammenhalt und Kooperation zu fördern und zu fordern, eben weil sich ein Staat ein Veto gut überlegen muss, weil dies langfristig seine Interessen gefährdet?

Die Staaten sind beim Ziehen der Veto-Karte leider relativ locker. Die Briten haben über Jahrzehnte jede Initiative für eine gemeinsame Steuerpolitik verhindert. Es könnte so sein, wie Sie es beschreiben, wenn die Voraussetzung unbestritten wäre, dass am Ende das gemeinsame Interesse stehen müsse. Aber auch davon kann heute keine Rede mehr sein. Es gibt eine Reihe von Staaten, etwa die Visegrad-Gruppe, die nicht darüber streiten wollen, was tatsächlich das bessere Gesamtinteresse aller ist, sondern die den Zwang zur Einstimmigkeit benutzen, um sich möglichst weit vom Gemeinschaftsinteresse weg zu bewegen. Ich gebe aber schon zu, dass es nicht die Lösung für die EU sein kann, über Staaten, die sich in der Minderheit befinden, einfach drüberzufahren. Die EU hat sich deshalb darauf geeinigt, dass man sich auch bei Mehrheitsentscheidungen um Konsens bemüht.

Wie schaut das in der Praxis aus?

Es gibt da den "Luxemburger Kompromiss". Der besagt, dass wenn in den mit Mehrheit zu entscheidenden Bereichen ein Staat ein fundamentales nationales Interesse anmeldet, dann muss der Beschluss noch einmal behandelt werden. Diese Regel wurde in den vergangenen Jahren nicht mehr angewendet, aber für die Zukunft halte ich eine weiterentwickelte Variante dieses "Luxemburger Kompromisses" für eine gute Sache. Gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, wo ein Ende der Einstimmigkeit gefordert wird, könnte das ein guter Kompromiss sein. Es bleibt jedoch die Frage: Wie kann überprüft werden, ob ein gerechtfertigtes nationales Interesse vorliegt? Möglicherweise könnte der Europäische Gerichtshof, der ohnehin ein sehr politischer Gerichtshof ist, entsprechende Gutachten erstellen. Aber ich habe da auch kein fertiges Konzept.

Zurück zu Rolle der Staaten: Viele Föderalisten sehen die EU als Mittel zum Zweck, die Nationalstaaten zu überwinden. Dabei ist es mindestens so einleuchtend, dass die Staaten erst die EWG und dann die EU begründet haben, um selbst überleben zu können.

Bei der Gründung hat niemand daran gedacht, dass man so etwas wie die Vereinigten Staaten Europas je benötigen würde. Die Idee war, in Teilbereichen die souveränen Rechte der Staaten gemeinsam wahrzunehmen. Die Durchführung dieser Wahrnehmung hat man auf gemeinsame Organe übertragen. Das war die Gründungsidee. Ich halte es angesichts der nationalistischen Entwicklung in etlichen Staaten für völlig unsinnig, jetzt über die Idee von Vereinigten Staaten von Europa zu diskutieren. Das kommt in den nächsten 50 Jahren sicher nicht. Sehr wohl aber sollten wir über die Idee einer "ever closer union" nachdenken, also über die Vorstellung, dass sich die Union kontinuierlich vertiefen sollte. Vom Grundsatz her ist das eine berechtigte Forderung. Die Frage ist nur, wie man das umsetzen kann.

Nämlich?

Man sollte aufhören, Integration immer als etwas Gesamthaftes zu betrachten. Die Zukunftslösung liegt bei einer wachsenden Zahl von Teilintegrationen. Es spricht sehr viel dafür, dass es z. B. bei Forschung, Entwicklung und Innovation eine starke europäische Vergemeinschaftung gibt. Wenn wir das nicht machen, bleibt hier Europa global betrachtet ein Schwachmatikus. Und noch ein Vorteil: Man könnte auch Großbritannien trotz Brexit problemlos weiter miteinbeziehen oder auch künftige Kandidatenländer. Weitere Bereiche müssten beispielsweise die Energie- und Klimafragen, die Migration und die Frage sein, wie sich Europa gegenüber Afrika neu aufstellt. Die Marshallplan-Idee kann es ja nicht sein, die wird in Afrika eher als neo-kolonialistisches Konzept verstanden.

Ist man nur dann ein guter Europäer, wenn man die Positionen von Kommission und Parlament unterstützt?

Nein, mit Sicherheit nicht. Alle sind eingeladen über Europa zu diskutieren. Dabei brauchen wir jedoch deutlich mehr Druck im europäischen Dampfkessel. Wir müssen für Europa sowie darüber, was der richtige Weg ist, auch streiten. In der aktuellen Phase erwarten sich sehr viele Staaten auf der ganzen Welt Initiativen und Aktionen von den Europäern - und was machen wir? Wir können uns nicht entscheiden, ob und wenn ja, welche Initiativen wir setzen. Es genügt nicht, dass wir auf die Führungsschwäche der USA verweisen oder auf die Probleme mit China oder Russland. Wir Europäer müssen unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen, wenn wir an der Spitze der Welt mitspielen wollen.

Wollen wir das denn überhaupt?

Die richtige Frage lautet hier: Wollen wir unseren Wohlstand behalten? Wenn ja, gibt es dazu keine Alternative. Wenn wir nicht an der Spitze mitspielen, werden wir wesentlich an Wohlstand verlieren.

Franz Fischler (73) war von 1995 bis 2004 der erste EU-Kommissar Österreichs. Der ÖVP-Politiker war davor in einer großen Koalition Agrarminister.