Zum Hauptinhalt springen

Wohnzimmer gestalten, nicht Korridore

Von Matthias G. Bernold

Times Square in New York:Wo früher Autos fuhren, trinkt man heuteseinen Kaffee.
© DOT

Der dänische Stadtplaner Jan Gehl über menschenfreundliche Städte.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Im überfüllten Festsaal des Amtshauses Neubau sprach vor kurzem der dänische Stadtplaner und Architekt Jan Gehl anlässlich der Ausstellung "The Good City - Visionen für eine Stadt in Bewegung". Die "Wiener Zeitung" hat Gehls Ansichten zur Frage, wie Städte in menschenfreundliche Lebensräume umgewandelt werden können, in acht Thesen aufbereitet:

These eins: Kinder aufs Fahrrad

Auch wenn die demografische Entwicklung dies nicht unbedingt widerspiegelt: Wer durch Kopenhagens Straßen flaniert, könnte meinen, die dänische Hauptstadt verzeichnet einen Baby-Boom. "Die Karenzzeit verbringen junge Eltern gerne in den Kaffeehäusern der Stadt", sagt Gehl: "Und die erreichen sie mit Vorliebe per Lastenrad." Jede dritte Familie habe ein Lastenrad. Die Straßen seien voller Kinder. Mit drei, vier Jahren erlerne jeder junge Däne das Radfahren. "Einer der wichtigsten Tage im Leben eines Dänen", sagt Gehl: "Denn von dem Tag an werden sie Rad fahren und nicht mehr damit aufhören."

These zwei: Das Prinzip 8/80 als Leitsatz

Als Leitsatz für die Stadtplanung verweist Gehl auf die Formel 8/80: Eine Stadt sollte so gebaut sein, dass sich darin Achtjährige und über 80-Jährige ebenso sicher wie der Rest der Bevölkerung bewegen können. Konkret bedeutet das unter anderem Gehsteige, die nicht vor der Kreuzung enden, sondern durch die Kreuzung gezogen werden, sodass für die Autos eine Schwelle entsteht: Fußgänger verlassen daher niemals den Gehsteig, auch wenn sie eine Straße überqueren. "Außerdem entsteht so im Kreuzungsbereich ab und zu Platz für eine Parkbank oder einen Baum", sagt Gehl.

These drei: Nicht Korridore, sondern Wohnzimmer planen

"Je häufiger die Menschen eingeladen werden, zu verweilen, desto besser, weil menschlicher ist eine Stadt", sagt Gehl: "Wo gegangen, geredet, gestoppt, geschaut, gesessen und gespielt wird, dort ist eine Stadt lebendig." Nicht die Frage der Fortbewegung sollte bei der Stadtplanung Priorität genießen. "Während der Moderne haben die Architekten alles unternommen, um die Menschen aus der Öffentlichkeit zu vertreiben. Jetzt wollen wir das Gegenteil." Wer in einer Stadt nur Wege und Straßen plane, folgert Gehl, der schaffe ein Haus, das ausschließlich aus Korridoren besteht, ein Haus ohne Wohnzimmer, Küchen und Schlafzimmer.

These vier: Einwände gegen gesunde Stadt unbegründet

Seit dem Jahr 1962 wird Kopenhagen in eine Stadt für Fußgänger umgebaut. "Als wir damit begonnen haben, wurde eingewendet: Die Dänen würden immer Auto fahren und es sei zu kalt, um im Freien zu sitzen. Straßencafés seien etwas für die Italiener." Mehr als 50 Jahre später sei Kopenhagen, was die Zahl der Schanigärten angeht, italienischer als jede italienische Stadt.

Das Argument, Verkehrsberuhigung sei gut, passe aber nicht hierher, höre man in Variationen in jeder einzelnen Stadt. Dennoch proben Städte wie Brisbane, Melbourne, Paris, New York oder Rom nach 50 Jahren automobiler Dominanz einen Paradigmen-Wechsel hin zu lebenswerteren, nachhaltigen und gesünderen Städten. "In New York war der Widerstand anfangs am größten", sagt Gehl: "Ich wurde gefragt, ob ich verrückt sei. Mir wurde gesagt, dass es niemals, niemals möglich sein werde, den Broadway für den Autoverkehr zu sperren. Schauen Sie sich den Broadway jetzt an: Die New Yorker sitzen dort in Liegestühlen und haben eine gute Zeit."

These fünf: Kreuzungen sind der Knackpunkt

Obwohl in Dänemark kaum ein Radfahrer mit Helm unterwegs ist, verletzen sich die wenigsten im Straßenverkehr. Dass der Straßenverkehr so sicher ist, liegt, glaubt man Gehl, zum einen am lückenlosen und separierten Radverkehrsnetz. Zum anderen aber am Kreuzungsmanagement: "Wir haben über die Jahre herausgefunden, dass die Kreuzungen die gefährlichsten Situationen im Straßenverkehr schaffen", sagt Gehl. Konsequenterweise habe man allerhand unternommen, um diese Bereiche sicherer zu gestalten: Spezielle Radverkehrs-Ampeln, die sechs Sekunden früher auf Grün stellen als die Ampeln für den Autoverkehr. Breite Radwege entlang aller Hauptstraßen. Und vor allem: die ungeheuer hohe Anzahl an Radfahrern. "Umso mehr Menschen Rad fahren, desto besser achten Kfz-Lenker auf sie."

These sechs: Kultur im Straßenverkehr ändern

Die Änderung der Kultur im Straßenverkehr ist weder zufällig noch von Gott gegeben. Sie kann vielmehr durch vielfältige infrastrukturelle und politische Maßnahmen geändert werden: Fahrrad-Mitnahme in der Bahn ist gratis. Jeder Waggon ermöglicht es, Räder abzustellen. Es ist ein Bündel von Maßnahmen, das über die Jahre das Verkehrsverhalten verändert hat, bis zu dem Punkt, wo 37 Prozent aller Wege mit dem Rad zurück gelegt werden, 33 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln und nur noch 27 Prozent mit dem Auto.

Stadtplanern in anderen Städten, die auf die Mobilitätswende hinarbeiten, rät der Däne, die Veränderungen penibel zu dokumentieren und statistisch zu erfassen. "Städteplaner haben oft wunderbar detaillierte Statistiken zum Kfz-Verkehr, aber wenig Datenmaterial zum Verhalten von Fußgängern oder zum öffentlichen Leben", sagt Gehl: "Es war in Kopenhagen für die politische Debatte wichtig, präzise Zahlen bereitzustellen, um die positiven Veränderungen zeigen zu können, die mit der Transformation einhergehen."

These sieben: Wir säen, was wir ernten

Auch eine erfolgreiche Verkehrspolitik, die mehr Menschen zum Umstieg auf umweltfreundliche Verkehrsmittel bringt, wirft neue Fragen auf. "Die Kopenhagener beschweren sich jeden Tag über Staus", sagt Gehl: "Auf den Fahrrad-Spuren nämlich." Obwohl die Fläche der Fahrrad-Spuren zulasten der Auto-Fahrbahnen in den vergangenen Jahren verdoppelt wurde, hätte das Angebot mit der Nachfrage nicht standgehalten: "Wir säen, was wir ernten", sagt Gehl: "Wenn wir Autobahnen bauen, zieht das Autos an. Wenn wir Rad-Infrastruktur errichten, steigt die Zahl der Radfahrer."

These acht: Mobilitätswende ist wirtschaftlich sinnvoll

Diese These ist auch aus Wiener Perspektive interessant, wenn man an die Debatte rund um die Verkehrsberuhigung in der Mariahilfer Straße denkt: "Wir alle leben in kapitalistischen Wirtschaftssystemen", stellt Gehl fest: "Dennoch öffnen sich immer mehr Städte für eine Mobilitätswende." Dies würde nicht geschehen, wenn es kein gutes Geschäft wäre. Es sei ein simples Prinzip: "Je lebenswerter eine Stadt für die Menschen ist, umso besser ist sie für die Wirtschaft." Im Wettbewerb mit den Einkaufszentren in den Vorstädten, hätten die Stadtzentren wieder bessere Karten. Wo öffentliches Leben passiert, wo sich die Menschen wohlfühlten, werde auch gerne konsumiert.

Jan Gehl ist ein dänischer Architekt und Stadtplaner aus Kopenhagen. Einen besonderen Fokus legt Gehl auf die Verbesserung der städtebaulichen Qualität für Zu-Fuß-Gehende und Radfahrende. Die Strøget in Kopenhagen - die längste Fußgängerzone in Europa - geht auf Gehl zurück.