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80 Prozent der Bevölkerung Singapurs leben in Sozialwohnungen. Sie gehören zur Erfolgsgeschichte des Stadtstaates.
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Singapur. Liu Thai Ker schwört auf Aufzüge. Sie begründen seinen Erfolg. Mehr noch. Sie begründen den Erfolg einer ganzen Nation. Liu Thai Ker ist Singapurs Wohnbaudoyen. Ein Gros der Stadtplanung geht auf sein Konto. Über zwei Jahrzehnte war Liu zuständig für den sozialen Wohnbau in Singapur - und damit maßgeblich beteiligt an der Erfolgsgeschichte des Landes. Hätte er sich vor 48 Jahren nicht den Kopf über Aufzüge zerbrochen, wäre der autokratische Stadtstaat an der Südspitze Malaysias nicht dort, wo er heute ist: ein Wolkenkratzerutopia ohne soziale Unruhen.
Liu lächelt. Der 79-Jährige erinnert sich, wie seine Architektenkollegen im Westen über die Wolkenkratzer die Nase gerümpft haben. Verpönt waren die meterhohen Türme für den Wohnbau, verschrien als Hort von Armut und Kriminalität. "Im Westen hat man das verurteilt. Aber wir hatten keine andere Wahl", sagt Liu. Im Singapur der Sechziger Jahre war kein Platz für solche Debatten. Malaysia hatte das Land 1965 aus der gemeinsamen Föderation gekickt. Plötzlich war man auf sich gestellt. Arm und ohne Perspektive. Liu war damals ein junger Architekt. Ausgebildet in Australien und Amerika, sollte der Sohn aus einer angesehenen Künstlerfamilie seine Landsleute aus ihren Fischerhütten in zivilisierte Wohnungen übersiedeln. Raum war knapp im Inselstaat mit seinen 719 Quadratkilometern. In die Breite konnte er nicht gehen. Also hieß es: ab in die Höhe. Und wer rauf will, braucht ein gut funktionierendes Liftsystem. "Deswegen haben wir so viel Energie in die Aufzüge und ihre Wartung investiert", sagt er.
Geduldig erklärt Liu jeden Schritt im Sitzungsraum seines Architekturbüros in 7. Stock des Thong Teck Building. Es liegt in einer Seitenstraße der Edelmeile "Orchardstreet", wo sich ein Designerlabel an das nächste reiht. Es ist Mittwochvormittag. Erst am Vortag ist Liu von einer Geschäftsreise zurückgekommen. In zwei Tagen steht die nächste an. Dabei ist der 79-Jährige schon lange in Pension. Dennoch: Er ist ein gefragter Mann in der Region.
Man weiß um seine Rolle in Singapurs Aufschwungsmythologie. Jeder kennt die Geschichte vom einstigen Entwicklungsland, das mit Fleiß, Disziplin und eiserner Härte seines 2015 verstorbenen Gründungsvaters Lee Kuan Yew in nur einer Generation an die Spitze der internationalen High-Tech Metropolen aufgestiegen ist. Ohne den sozialen Wohnbau wäre das nicht möglich gewesen. Früh hat Singapurs Regierung begriffen, dass mit Slums kein erfolgreicher Staat zu machen ist. Aus diesem Grund hat sie 1961 das Housing Development Board (HDB) ins Leben gerufen. Ziel der neuen Behörde: leistbaren und ansprechenden Wohnraum zu schaffen. Frei nach dem Motto: Wer ein Dach über dem Kopf hat, das ihm gefällt, rebelliert auch nicht so schnell.
Binnen weniger Jahre schossen die ersten Satellitenstädtchen aus dem Boden, inklusive Parkanlagen, Nahversorgern, Kindergärten, Kliniken und einer Anbindung an den öffentlichen Verkehr.
Ethnisch durchmischt
In der einen Million Sozialwohnungen leben mittlerweile 80 Prozent der Bevölkerung. 90 Prozent dieser Bewohner besitzen gar ihre Wohnungen. Während der soziale Wohnbau in anderen Städten stigmatisiert wird, gehört er in Singapur zur Normalität. Ist gar Teil der "singapurischen Identität", wie es Liu Thai Ker nennt. Er begann seine Karriere 1969 als Architekt in der HDB-Behörde, später wurde er Chef der Planungsdivision, bis er zum Geschäftsführer ernannt wurde.
Akribisch hatte er europäische Städte studiert, notiert, was in Frankreich, Schweden und Finnland funktioniert und was er besser in seiner tropischen Heimat vermeiden sollte. Keine dunklen Korridore. Keine dunklen Ecken. Und vor allem: keine Ghettos.
Von Anfang an wurde auf die ethnische und soziale Durchmischung in den HDB-Siedlungen geachtet. Von den 5,6 Millionen Einwohnern der Insel sind eine Million Ausländer. Der Rest setzt sich zusammen aus den drei Volksgruppen, Chinesen (75 Prozent), Malaien (11 Prozent) und Inder (9 Prozent). Sie müssen gemäß ihrem Anteil in der Bevölkerung in jedem Häuserblock vertreten sein. Ausländer haben kein Recht auf eine HDB-Wohnung.
Paternalismus will gelernt sein
Sozial gestaltet sich die Durchmischung etwas schwieriger. So bestimmt das Einkommen die Größe der Wohnung. Ob eine vierköpfige Familie in einer der kleinen 36 Quadratmeter großen Garconnieren haust oder in einer 130 Quadratmeter großen Fünfzimmersuite, hängt ausschließlich von ihren finanziellen Mitteln ab, nicht von ihrem Bedarf. "Was ist schlimmer, wenn es ein bisschen voll ist oder wenn sie obdachlos wären?", fragt Liu. Wer in einer größeren Wohnung leben möchte, soll sich halt mehr anstrengen. Ein Upgrade ist jederzeit möglich. Es liegt in der eigenen Hand.
Doch auch in Singapur scheint die Bevölkerung das meritokratische Evangelium langsam sattzuhaben. 2011 machte sich dieser Unmut im Ergebnis der Parlamentswahlen bemerkbar. Die regierenden Peoples Action Party (PAP), die seit 58 Jahren an der Macht ist, fiel mit 60 Prozent auf ein historisches Tief. Der Grund: zu hohe Lebenskosten, zu viele Expats, zu teure Wohnungen.
Die Regierung versprach Abhilfe, gab billige Kredite und unterstützte Erstkäufer von HDB-Wohnungen. Bei der nächsten Wahl, vier Jahre darauf, hatten sich die Gemüter wieder beruhigt. Und auch das Wahlergebnis. Die Regierung weiß: Wer paternalistisch waltet, muss die Kinder bei Laune halten. Sonst werden sie störrisch. Und das kann gefährlich werden. Nicht umsonst fragen vor allem Politiker aus China und Russland nach Liu Thai Kers Expertise. Auch sie wissen um die kalmierende Macht des sozialen Wohnbaus.