Die Türken wollen der Europäischen Union angehören. Laut jüngsten Umfragen sind 71 Prozent für den Weg Richtung EU, 13 Prozent sind unentschlossen und nur 9 Prozent dagegen. Vor allem die Elite des Landes erwartet sich vom Wohnen unter dem europäischen Dach viele Vorteile. Doch auch unter den Beitrittswilligen gibt es Skeptiker, zu lange, meinen sie, wurde die Türkei von den Europäern hingehalten. Die strengen Auflagen, welche die EU-Kommission ihrem Fortschrittsbericht hinzugefügt hat, wären weitere Stolpersteine auf dem Weg.
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Aycan Türün hat ein Teppichgeschäft in Istanbul, nahe der Hagia Sophia. Der 45-jährige spricht Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch nahezu fließend. Das sei in Istanbul so üblich und notwendig - "fürs Geschäft", wie er erklärt. Denn die Touristen sind die Kundschaft. Daher könnten fast alle Istanbuler mindestens eine Fremdsprache. Er ist hoffnungsvoll, was einen möglichen Beitritt der Türkei zur EU anbelangt.
Die Hagia Sophia, einst Kirche, dann Moschee, ist für ihn ein Symbol, dass die Vereinung der christlichen mit der islamischen Welt gelingen könnte. Schon jetzt habe die bloße Aussicht darauf die Situation im Land erheblich verbessert. Erst vor fünf Jahren wurde begonnen die Häuser der Stadt zu renovieren. Der Teppichhändler lobt die Reformpolitik von Premier Recep Tayyip Erdogan, der auch als Istanbuler Bürgermeister sich als erster bemühte, die Stadt aus ihrem Chaos zu befreien. Es gibt zwar desolate Viertel, doch es sei kein Vergleich zu früher. Noch sei viel zu tun, vor allem beim Verkehr müsste es Verbesserungen geben. Denn zu den Stoßzeiten versinkt die Stadt im kollektiven Stau.
Wenn EU zum Euro mutiert
Im Istanbuler Bazar verkauft Mehmet Z. Lederhosen und - jacken, die er in seiner Werkstatt herstellen lässt. Der 52-Jährige hat einige Jahre in Deutschland verbracht. Seine Schwester hat einen Stand am Wiener Brunnenmarkt, Nr. 320 wie er stolz erzählt. Auch er ist mit der Politik von Premier Erdogan zufrieden. Die wirtschaftliche Lage habe sich verbessert, die Inflation ist rapid zurückgegangen. Allein mit der Europäischen Union weiß er wenig anzufangen. Auf die Frage, ob er den Beitritt der Türkei begrüßen würde, antwortet er: "Ich weiß nicht. Die Deutschen und Österreicher sind doch gegen den Euro, oder?" Dieses fundamentale Missverständnis lässt sich auch nach mehrmaligem Nachfragen und Erklärungen nicht mehr beseitigen.
Ankara ist im Unterschied zu Istanbul eine moderne Stadt ohne Tourismus. Sie wurde vom türkischen Reformer Kemal Atatürk 1923 zur Hauptstadt gemacht und ist das Zentrum der Verwaltung. Lediglich die Elite spricht hier englisch.
Adem Tasdemir hat es zu bescheidenem Wohlstand gebracht, darauf ist er stolz. Er ist als Jugendlicher nach Deutschland ausgewandert und nach 19 Jahren wieder in seine Heimat zurückgekehrt und hat mittleweile ein Friseur- und ein Imbissgeschäft auf einer der größten Einkaufsstraßen der Stadt. Tasdemir ist von Deutschland enttäuscht, weil er nicht einmal ein Urlaubsvisum bekommt. Das versteht er nicht. Ein Beitritt zur EU würde dieses Hindernis beseitigen, hofft er. "Ich möchte, dass wir in die EU kommen, aber nicht erst in 15, sondern schon in 4 Jahren." Erdogan werde den Türken den Weg in die EU ebnen. Von der Gemeinschaft erwartet er sich Wohlstand und Sicherheit für alle. Trotz mehrfacher Reformen, sei noch vieles zu verbessern. So gebe es noch immer keine verpflichtende Kranken- und Sozialversicherung für alle. Auch sei die Arbeitslosigkeit mit 10 Prozent viel zu hoch. Sollten die Verhandlungen mit der EU allerdings länger als 10 Jahre dauern, könne das die Lage verändern. "Jetzt braucht die Türkei Europa, dann vielleicht nicht mehr. Aber es kann sein, dass dann Europa die Türkei braucht." Wenn die Wirtschaft weiterhin wachse, werde die Türkei auch gut alleine auskommen.
"Nein, ich will nicht, dass die Türkei beitritt." Oguz Özdemir will nichts mehr von Europa wissen. Denn er glaubt nicht, "dass Europa uns überhaupt will." Zulange seien die Türken hingehalten worden. "Warum haben sie uns nicht schon längst aufgenommen? Eigentlich sollten wir vor den Bulgaren, Rumänen und Polen reinkommen," ist der 19-jährige Baklava-Verkäufer überzeugt. "Wir waren schon eine Demokratie, als diese Länder noch vom Kommunismus diktiert wurden."
Auch Gürer Kol hat die ewige Anbiederung an die EU satt. "Die Türkei ist viel besser als Europa." Der arbeitslose Friseur preist die Hilfsbereitschaft seiner Landleute. Der Zusammenhalt sei viel größer. "In Europa arbeitet jeder nur für die eigene Tasche. Alle sind Egoisten." Diese Tradition der gegenseitigen Unterstützung in der Not könne durch den Beitritt verloren gehen, fürchtet er. "Wir wollen unsere Kultur behalten und so weiterleben wie bisher." Dabei pflichtet ihm Tasdemir bei, er glaubt jedoch, dass der Beitritt für die kulturelle Identität keine Gefahr ist.