Das neue Buch des österreichischen Ökonomen, das die wirtschaftliche Entwicklung seit 1970 verständlich machen will, greift in einigen Punkten zu kurz.
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Die in den letzten Jahrzehnten stark gestiegene Bedeutung von Finanzmärkten ruft wohl zurecht Beunruhigung hervor. Die durch die Finanzkrise 2008 bedingten wirtschaftlichen und sozialen Probleme zeigen das. Stephan Schulmeister forscht seit langem über die Konsequenzen. In seinem neuen Buch, "Der Weg zur Prosperität", legt er seine Ergebnisse dazu dar. Es geht nicht nur um die Krise, sondern um die langfristige Entwicklung seit 1970.
Schulmeisters These: Die Finanzmärkte ermöglichen es den Unternehmen, höhere Gewinne durch spekulative Veranlagungen zu erzielen als durch reale Investitionen. Das senkt das reale Kapital und damit die Anzahl der Arbeitsplätze. Die Einkommen sind niedriger, die Investitionen in die reale Wirtschaft bleiben niedrig. Die Arbeitslosigkeit steigt an. Der für Wirtschaftswachstum günstige "Realkapitalismus" nach 1945 wurde ab den 70er Jahren durch den "Finanzkapitalismus" verdrängt.
Zeit der Deregulierung
Diese Entwicklung wurde politisch hervorgerufen, als 1971 der feste Preis für Gold in Dollar aufgegeben wurde. Dadurch waren die Wechselkurse zwischen den Währungen nicht mehr fix. Es entstanden Märkte zur Spekulation auf Wechselkursänderungen. Später kamen Deregulierungen anderer Finanzmärkte hinzu. Diese politischen Entscheidungen sind Folge einer spezifischen Theorie der Ökonomie, nämlich dass staatliche Interventionen in die Wirtschaft meist negative Folgen haben - also des Neoliberalismus. Die Arbeitsmärkte werden dereguliert, der Sozialstaat wird geschwächt.
Schulmeister will in dem Buch erklären, warum es so gekommen ist. Zwei Fragen sollen hier diskutiert werden: Ist seine Theorie der Ablenkung der Investitionen in spekulative Veranlagungen plausibel? Zweitens, beruht die größere Bedeutung der Finanzmärkte auf willkürlichen politischen Entscheidungen in Folge einer ideologischen Verschiebung hin zu einer wirtschaftsliberalen Gesinnung? Ich möchte zeigen, dass beides nicht zutrifft.
Schulmeister schreibt alle privaten Investitionsentscheidungen den Unternehmen zu - entweder für Produktion oder für Spekulation. Ersteres ist gut, weil dabei produziert wird, nämlich die Kapitalgüter; Letzteres ist schlecht, denn dabei bereichern sich die einen auf Kosten der anderen. Diese Vorstellung greift zu kurz.
Die Entscheidung über reale Investitionen wird zwar von Unternehmen gemacht, die Entscheidung, wie ein Vermögen veranlagt wird, erfolgt jedoch nur zum Teil in Unternehmen, etwa wenn eine Unternehmerin beschließt, ihre Gewinne für eine Ausweitung ihrer Produktionskapazität zu verwenden. Veranlagungen in Finanzvermögen außerhalb der Unternehmen sind ein üblicher Bestandteil des Wirtschaftslebens.
Karl Wlaschek hat bekanntlich das Unternehmen "Billa" aufgebaut. Er hat seine Gewinne zu einem Teil wieder im Unternehmen investiert. Er verkaufte im Jahr 1996 Billa an die REWE Gruppe für 1,1 Mrd. Euro. Mit den bereits davor entnommenen Gewinnen gab es ein Vermögen von rund 4 Mrd., das veranlagt werden musste. Immobilien wurden erworben. Wlaschek war nicht mehr Unternehmer im eigentlichen Sinn. Ein Umstieg von aktiver Unternehmenstätigkeit zur Verwaltung eines Vermögens, insbesondere in Immobilien, ist oft zu finden. Man will selbst nicht mehr, oder die Erben wollen nicht.
Dietrich Mateschitz, der reichste Österreicher, verfügt über ein Vermögen von rund 20 Mrd. Euro. In seinem Unternehmen gibt es keine Produktionsanlagen, da die Firma Rauch (Fruchtsäfte) die Produktion und die Logistik von Red Bull betreibt. Seine Gewinne sind der Erfolg der Marke, nicht der Organisierung eines Unternehmens.
Dass Finanzanlagen heute wichtiger sind als vor fünfzig Jahren, ist eine Folge des inzwischen stark gestiegenen realen Reichtums - mehr Produktionsstätten, Immobilien, Einkaufszentren. Sie alle haben Eigentümer, die nicht notwendigerweise mit den Entscheidungen in den betreffenden Unternehmen betraut sind. Sie sind Rentiers. Man kann darüber empört sein. Aber muss ein junger Mensch Unternehmer werden, nur weil die Mutter erfolgreich ein Unternehmen aufgebaut hat? Die Veranlagung bestehender Vermögen ist jedenfalls kein Thema für Schulmeister.
Alles nur Spekulation?
Es gibt außerdem nicht nur die großen Vermögen. Für fast alle gut verdienenden Menschen bieten staatliche Pensionen eine zu geringe Absicherung des Lebensstandards im Alter. Sie müssen für das Alter ansparen. Oft wird das vom Arbeitgeber organisiert. Diese Vermögen müssen angelegt werden. Dazu kommen die großen staatlichen Sparvermögen von Staaten mit großen Finanzüberschüssen, meist auf Grund von Ölexporten. Der norwegische Staatsfonds etwa verfügt über ein Vermögen von 800 Mrd. Euro. Dieser legt die laufenden Gewinne aus dem Erdöl weltweit an, um für die Zeit nach der Erschöpfung dieses Schatzes vorzusorgen. Es hilft realen Investitionen in anderen Teilen der Welt. Alles nur Spekulation?
Aber selbst wenn Unternehmen ihre Gewinne oder Teile davon statt in Realinvestition in kurzfristig spekulativen Anlagen einsetzen, so ist nicht klar, wieso dadurch die Investitionstätigkeit insgesamt verringert wird. Schulmeister selbst liefert das Argument, warum dem nicht so sein muss. Er schreibt, dass die Summe aller Finanzvermögen null ist, weil jeder Forderung eine Verbindlichkeit gegenübersteht.
Das ist richtig. Habe ich ein Sparbuch bei einer Bank, so schuldet mir diese Bank den eingezahlten Betrag. Wenn also ein Unternehmen einen größeren Betrag in ein sehr spekulatives Wertpapier investiert, dann hat der Verkäufer oder die Ausgeberin diesen Betrag erhalten. Er muss wiederum angelegt werden. Es müsste also begründet werden, warum durch die Vergrößerung des Finanzvermögens dieses Unternehmens die Weiterleitung des Betrags über Finanzmärkte in den realen Sektor nicht funktioniert.
Krisen-Anfälligkeit
Finanzmärkte sind notwendig. Sie müssen reguliert werden. Ich bin sicher, dass die vor 1970 geltenden Regeln heute nicht mehr adäquat wären. Das System von Bretton Woods mit seiner Bindung der Weltwirtschaft an den Dollar und das Pfund wurde geplant, als Europa zerstört und die kommende Dominanz der Sowjetunion über Osteuropa akzeptiert war. Der Rest der Welt war arm und in großen Teilen kolonialer Anhang an Europa. In allen Staaten gab es 1970 noch Kapitalverkehrskontrollen. Sie sind notwendig in einer Welt fixer Wechselkurse.
Die tatsächlichen Liberalisierungen der Finanzmärkte waren sicher nicht nur ein Segen. Die Probleme liegen aber nicht bei der langfristigen Reduzierung der Nachfrage durch geringere Investitionen, sondern bei der höheren Anfälligkeit für Krisen. Die im Jahr 2008 war ein Beispiel. Einige Verbesserungen in den Regelwerken wurden vorgenommen. Leider will die Regierung Trump sie wieder rückgängig machen.
Sind an allem die Ökonomen schuld? Schulmeister sagt dem Mainstream der Ökonomie nach, dass er staatliche Regulierungen der Wirtschaft ablehnt. Statt wissenschaftlicher Analyse tritt ein Glaube an die Marktkräfte - der Neoliberalismus. Diese Meinung über Ökonomie ist weit verbreitet. Sie ist aber falsch. Der Mainstream ist all das, was auf Universitäten, insbesondere den guten, gelehrt wird: die Methoden, die für theoretische und angewandte Forschung verwendet werden, die Publikationen in guten Fachjournalen. Dazu gehören sicher auch Ökonomen, die von den Vorteilen unregulierter Marktsysteme überzeugt sind. Sie sind Teil des Mainstreams, aber sie bestimmen ihn nicht.
Vielfältiger Mainstream
Ist dem Autor beim Schreiben seines Buches nicht aufgefallen, dass er sich in seiner Kritik an den Marktideologen auf Ökonomen stützt, die auf sehr anerkannten Universitäten arbeiten? Manche von ihnen haben den Nobelpreis bekommen. Sind sie kein Teil des Mainstreams? Am 10. Juli veröffentlichte die "FAZ" eine Erklärung von 14 sehr anerkannten deutschen und französischen Ökonomen, die in einigen Fragen ähnlich kritisch gegenüber der bisherigen Politik in Europa sind wie Schulmeister. Sie sind nicht der Mainstream, aber sie gehören dazu. Und sie arbeiten mit den üblichen Instrumenten der Wirtschaftstheorie.
Diese Instrumente ermöglichen die Analyse wirtschaftlicher Zusammenhänge. Schulmeister lehnt sie jedoch explizit ab. Analysen mit ihnen seien zu sehr an einem Gleichgewicht auf Märkten orientiert. Stattdessen erzählt er eine Geschichte, die ich für bedenklich halte. Einige Ökonomen mit der festen Überzeugung, dass die Wirtschaft möglichst frei von staatlichen Einflüssen sein soll, gründeten 1947 die Mont-Pèlerin-Gesellschaft zur Diskussion und Propagierung einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Die konkreten Inhalte waren vage. Der Österreicher Friedrich A. Hayek und der Amerikaner Milton Friedman waren bei der Eröffnung mit dabei. (Hayek war von 1947 bis 1961 Präsident).
Eine Verschwörung?
Diese Gesellschaft sollte nicht groß werden, aber einflussreich. Die Zahl der Mitglieder ist bis heute unter Tausend geblieben. Sie sind gut untereinander und mit konservativen und wirtschaftsliberalen Thinktanks vernetzt. Ein Einfluss auf die Politik ist ihnen nicht abzusprechen. Schulmeister behauptet aber viel Stärkeres. Diese Gesellschaft habe die ursprünglich keynesianisch orientierten Eliten - ein Ausdruck, den er oft verwendet - umgedreht. Sie wurden zum Liberalismus à la Hayek bekehrt. Heute wissen viele Professoren, Journalisten und Politiker - sie sind ja Opportunisten - nicht einmal, dass ". . . sie Akteure einer großen Inszenierung sind, die Hayek und Co. vor siebzig Jahren planten". War es also eine erfolgreiche Verschwörung?
Der Gebrauch ökonomischer Theorie ist in Diskussionen über eine bessere Politik unverzichtbar. Es geht in der Ökonomie nicht um die Frage, ob ungeregelte Marktwirtschaft gut oder schlecht ist. Ökonomen, die den Staat abschaffen wollen, trifft man genauso oft wie jene, die alle Märkte abschaffen wollen. Analysiert wird, welche Regulierungen günstig sind - und welche eher schädlich.
Die Ökonomie ist die Wissenschaft von einer rationalen Diskussion der Wirtschaftspolitik. Sie hilft Probleme zu verstehen. In der Weltwirtschaftskrise wurde der Einsatz von staatlicher Ausgabenpolitik lange Zeit von fast allen abgelehnt. Schulmeister stellt fest, dass in der Finanzkrise ab 2008 die Politik anders reagiert hat. Er lobt sie dafür. Die Theorie von Keynes hatte also, entgegen Schulmeisters Aussagen, noch immer Wirkung. Aber auch die von Milton Friedman, der gemeinsam mit der Ökonomin Anna Schwartz in einer großen Arbeit zeigte, dass die Politik in den USA 1929, nämlich die Banken einfach fallen zu lassen, wesentlich zur Schwere der Krise beigetragen hatte.
UPDATE:
In der ersten Version des Artikels war die Ko-Autorenschaft einer Publikation Friedmans seiner Ehefrau Rose zugeschrieben worden. Milton Friedman hatte diese jedoch mit Anna Schwartz verfasst. Der Zusammenarbeit mit Rose Friedman entstammen andere Werke.