Washington - Die Rede von US-Präsident George W. Bush "Zur Lage der Nation" habe eigentlich aus zwei Reden bestanden, wie ein US-Kommentator vermerkte: Eine zum Kampf gegen Terrorismus, für eine starke und aktive Außen- und Verteidigungspolitik und eine weitere zu aktuellen Problemen in der Innen- und Wirtschaftspolitik.
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Ein souverän wirkender Bush, dessen Popularitätswerte bei den Amerikanern seit September konstant über 80 Prozent liegen verrwies einerseits auf die Erfolge im Kampf gegen den Terrorismus. "Die Terroristen, die früher Afghanistan besetzt hielten, 'besetzen' jetzt Zellen in Guantanao Bay", triumphierte der US-Präsident, der Applaus war ihm sicher.
Innenpolitische Dissonanzen
Weniger einträchtig wirkte das versammelte US-Parlament beim zweiten Teil der Ansprache, die der Belebung der kränkelnden Wirtschaft und sonstigen innenpolitischen Themen gewidmet war. "Jobs" war das Schlüsselwort, das die Augen der Amerikaner zum Glänzen bringen sollte. Doch Bush wirkte fast verzweifelt, als er an den Kongress appellierte, das Paket zur Ankurbelung der Wirtschaft endlich zu verabschieden. Die Demokraten haben da andere Vorstellungen als der republikanische Präsident, der auf Steuererleichterungen setzt - die Beifallskundgebungen im Kongress fielen entsprechend einseitig aus und beschränkten sich auf die Bänke der Republikaner.
Auch das Wörtchen "Enron", das seit Wochen die Schlagzeilen beherrscht, nahm Bush nicht in den Mund. Allerdings waren die Anspielungen auf den Bankrott des Energiehandelskonzerns für jeden Zuhörer offensichtlich: Die Forderung nach einer Reform des Betriebspensionssystems, damit Arbeitnehmer nicht (wie bei Enron) die jahrzehntelang angesparten Pensionen durch den Zusammenbruch ihres Unternehmens verlieren, und der Ruf nach strengeren Bilanzvorschriften, um das Vertrauen der Anleger in die Transparenz der amerikanischen Konzerne wieder herzustellen. Beides Forderungen der Demokraten, die der Präsident aufnahm. Die eindringliche Bitte an die Abgeordneten, durch Gewährung der Handelsförderungsvollmacht an den Präsidenten mehr Freihandel und damit einen Wirtschaftsaufschwung zu ermöglichen, wurde auf der demokratischen Seite des Kongresses eher kühl aufgenommen.
Patriotische Sprüche
Bush habe versucht, vom Oberkommandierenden eines im Krieg befindlichen Landes wieder zum Präsidenten der stärksten Nation der Welt zu werden, bemerkte ein Kommentator. Die patriotischen Sprüche des Präsidenten, der wie viele Amerikaner nach dem 11. September eine kleine amerikanische Flagge am Revers trägt, wurden zwar mit viel Applaus bedacht. Die volle Unterstützung durch die Opposition, die Bush im Afghanistan-Krieg und im Kampf gegen den Terrorismus begleitete, werde aber in wirtschaftlichen und sozialen Fragen schwächer ausfallen.