Zum Hauptinhalt springen

Wortgefahr

Von Edwin Baumgartner

Wie viel der NS-Sprache hat im heutigen Alltag überlebt? - Geht es um Wörter oder um Sprachprinzipien?


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Jedem das Seine: Das ist das Grundprinzip der Rechtsauffassung aller Jurisdiktionen, die sich auf das römische Recht beziehen. Die Römer haben das Prinzip "suum cuique" beim griechischen Philosophen Platon entlehnt. Es bedeutet, jeder habe den Anspruch auf Recht. Cicero schreibt in "De natura deorum" (Über das Wesen der Götter): "Iustitia suum cuique distribuit" (die Gerechtigkeit teilt jedem das Seine zu).

"Jedem das Seine" ist aber auch nationalsozialistisch kontaminiert. Der Spruch verhöhnte, als Beschriftung auf dem Tor des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht, die Häftlinge. Das Unrechtssystem der Nationalsozialisten, die das Recht ihrer Ideologie unterwarfen, pervertierte den Satz in sein Gegenteil, denn den Häftlingen wurde gerade das rechtmäßig Ihrige, also die ihnen zustehende objektive Rechtssprechung, eben nicht zuerkannt.

Die Pervertierung des Satzes durch die Nationalsozialisten überdeckt im heutigen Sprachgebrauch seine ursprüngliche Bedeutung. Deshalb gilt "Jedem das Seine" heute als NS-Vokabular. Die Rechtssprechung freilich richtet sich auch in unserer Gegenwart nach dem "Suum cuique"-Prinzip. Nur den Satz, der die Grundlage dazu bildet - den darf man nicht aussprechen, denn die Tilgung des NS-Vokabulars aus dem Sprachgebrauch soll das Denken in NS-Bahnen unterbinden.

Sprache und Denken

Aber ist der damit verbundene Ansatz, dass die Sprache das Denken formt und nicht das Denken die Sprache, überhaupt korrekt? Das würde nämlich bedeuten, dass sich mit der Verwendung des politisch korrekten Wortes das politisch korrekte Denken einstellt. Machen wir ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, ein Rassist würde sich dazu überreden lassen, statt des inkriminierten Wortes "Neger" das Wort "Schwarzer" zu verwenden: Das Vokabular wäre dann zwar politisch korrekt, dass sich aber das Denken des Rassisten geändert hat, darf bezweifelt werden.

Umgekehrt ist auch die Gleichsetzung von Vokabular und Denkweise unzulässig, zumal dann, wenn es der politische oder ideologische Gegner ist, der den Zusammenhang her- und einzelnen Wörtern einen Sinn unterstellt, der keineswegs intendiert war.

Sprache ist steter Fluss, und wie ein Fluss reagiert sie: Künstliche Regulierungen bringen für das Ökosystem, auch das der Sprache, meist Nachteile. Die Veränderung der Sprache ergibt sich durch das Sprechen selbst und durch sprachbildende literarische Werke, etwa Martin Luthers Übersetzung der Bibel, nicht durch Verordnungen.

Soll man das in der Sprache partiell überlebende NS-Denken an einzelnen Wörtern und Redewendungen festmachen, denen man mit detektivischem Impetus nachspürt, oder an Prinzipien der NS-Diktion? Nationalsozialistische Wortschöpfungen wie "Endsieg", "Endlösung" und dergleichen wird man nur noch als Signalwörtern für den rechten Rand begegnen. Auf die gezielte Herabsetzung von Menschen als "Untermenschen" oder "Parasiten" trifft man ebenfalls nur noch, wenn der Sprecher einem rechtsäußeren Denken anhängt.

Eine echte Überlebende der NS-Sprache ist die "Sonderbehandlung", das Codewort für die Ermordung von Menschen. Die "Sonderbehandlung" hat sich im heutigen Sprachgebrauch in allen Medien und über alle politischen Grenzen hinweg gehalten.

Sonst hat in der heutigen Alltagssprache kaum NS-Vokabular überlebt. Auszumerzen ist es vor allem dann, wenn es, vielleicht nur in Gedankenlosigkeit, nationalsozialistische Vorstellungen transportiert. Zum Beispiel: Heute noch, wenn ein Elternteil jüdisch ist, von einem "Halbjuden" oder einer "Halbjüdin" zu sprechen, verlängert den nationalsozialistischen Rassismus in die Gegenwart ebenso wie das Wort "Umvolkung". Wer das Wort "Mischling" auf Menschen anwendet, transportiert das Denken der Nationalsozialisten, dass auf (in NS-Diktion) "minderwertige" Menschen tierische Bezeichnungen anwendbar sind. Deshalb sind Tierbezeichnungen für Menschen abzulehnen. Auch die "Brut" stammt aus dem Bereich der Tiervergleiche, ob es nun die linke Seite "braune Brut" oder die rechte "rote Brut" schimpft.

Spannender als die Konzentration auf einzelne Wörter ist die Frage, inwiefern nationalsozialistische Sprachprinzipien in die Gegenwart überschwappen, etwa typisierende Herkunftsbezeichnungen: "Der Jude", sagten die Nationalsozialisten. Heute hört und liest man "der Russe" oder "der Amerikaner", "der Ausländer", "der Flüchtling".

Dass der Philologe Victor Klemperer sein wegweisendes Buch dazu satirisch "LTI" betitelt als Abkürzung für "Lingua tertii imperii" (die Sprache des Dritten Reichs), ist bezeichnend, denn die Abkürzung ist eines der grundlegenden nationalsozialistischen Sprachprinzipien: Die Abkürzung ist einerseits ein Code, der sich nur Eingeweihten erschließt. Die Abkürzung erzeugt so das Wir-Gefühl: "Wir verstehen das."

Andererseits verleiht sie der Sprache Zackigkeit: "Pak" (Panzerabwehrkanone), "Flak" (Flugzeugabwehrkanone), "Stuka" (Sturzkampfbomber) "SS" (Schutzstaffel) und "Hastuf" (Hauptsturmführer) klingen schärfer konturiert als die ausgeschriebenen Bezeichnungen.

Dass sich diverse NS-Abkürzungen im heutigen Sprachgebrauch mit völlig anderer Bedeutung finden, liegt in der Natur der Sache: Der nationalsozialistische DBB (Deutscher Billard Bund) wird zu einem unverdächtigen DBB (Deutscher Basketball Bund) und die nationalsozialistische AHS (Adolf Hitler Schule) zur modernen AHS (Allgemeinbildende Höhere Schule). Bisweilen steht die Abkürzung sogar für das Gleiche, nur hat sie die Ideologie an den Nagel gehängt, wie im Fall des VW (Volkswagen). Würden sich nicht-nationalsozialistische Abkürzungen wie Arge (Arbeitsgemeinschaft), ZG (Zentralgenossenschaft) oder die allgegenwärtige SMS unter die NS-Stummelwörter mischen: Fielen sie als Fremdkörper auf?

Aufgeladene Wörter

Charakteristisch für die Sprache des Nationalsozialismus ist nicht zuletzt das Aufladen mit Wörtern oder Wortbestandteilen, die Macht, Gewalt und Bewegung signalisieren, vor allem in Zusammenhang mit der Zwangsgermanisierung von Fremdwörtern, um Sprache und Volk deckungsgleich zu machen. So kommt es zum "Kraftwagen" für das (lateinische) Auto und zum "Kraftrad" für das (teilweise lateinische) Motorrad. Der "Führer" hat als jemand, der in eine Richtung lenkt, mehr Dynamik als ein statischer "Vorsitzender". Reiht sich der heutige "Wutbürger" in dieses Wortbildungsmodell ein? Muss man bei der "totalen Schlappe" zusammenzucken, weil sie eine Parallelkonstruktion zum "totalen Sieg" sein könnte?

Oder kommt man dann vom Hundertsten ins Tausendste und gönnt den Nationalsozialisten zu viel Ehre, wenn man die Sprachkritik immer öfter unter diesem Aspekt sieht? Und gönnt man den Nationalsozialisten nicht einen nachzeitlichen Triumph, wenn man sich von ihnen Sprache wegnehmen lässt?

Andererseits ist heute kein Platz mehr für die menschenverachtenden Wörter und höhnischen Euphemismen des NS-Vokabulars: Eine "Reichskristallnacht" etwa war eine Pogromnacht, nichts anderes. Dass es freilich vor allem gilt, im Denken aufzuklären, und mit dem aufgeklärten Denken die Reinigung der Sprache von selbst eintritt, wie es in der Geschichte stets geschehen ist, sei umso nachdrücklicher ins Gedächtnis gerufen.

Mehr zum Thema"100 Jahre Republik": www.wienerzeitung.at/100jahre

Schreiben Sie mit uns das Tagebuch "100 Jahre Republik" und schicken Sie uns Ihre persönlichen Geschichten: www.wienerzeitung.at/tagebuch