In Europa leiden rund 130 Millionen Menschen zumindest irgendwann einmal in ihrem Leben an psychischen Erkrankungen - und das häufig unbemerkt von ihrer Umgebung und in aller Stille. Denn Stigmatisierung ist es, wovor diesem Millionenheer am meisten bangt, während sie laut einer aktuellen Umfrage gleichzeitig als eine der größten Barrieren für die Gesundung angesehen wird. Stress und die damit einhergehenden psychosomatischen Leiden, Depressionen, Sozialphobien (Angststörungen, Panikattacken) und Suchtkrankheiten führen dabei die "Hitliste" an - und stehen in engster Verbindung mit dem Arbeitsdruck und dessen Gegenteil, der Arbeitslosigkeit.
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Arbeitsbedingter Stress ist ein weit verbreitetes Phänomen und längst bekannt: Schon im Jahr 2000 ergab eine Untersuchung der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, dass 28 Prozent der damals 160 Millionen Beschäftigten in der EU damit konfrontiert sind, mehr als die Hälfte von ihnen gab an, unter hohem Tempo und Zeitdruck arbeiten zu müssen. Verbessert hat sich die Situation seither keineswegs, wie Fachleute der Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese Woche in Tallinn, Estland, festhielten. Sie schätzen, dass stressbedingte Leiden (zu denen vordergründig oft Kopf-, Muskel- und Rückenschmerzen zählen, aber auch gefährliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen) die Hauptursache für Fehlzeiten sind, und berufen sich auf einige Untersuchungen aus mehreren europäischen Ländern, denen zufolge 50 bis 60 Prozent der verlorenen Arbeitstage unmittelbar auf Stress zurück zu führen sind.
Jeder Vierte betroffen
Auch Dennis Beck vom Fonds Gesundes Österreich verweist auf zahlreiche Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen körperlichen Beschwerden und psychischem Leiden belegen. Zwei davon, aus den USA und England, wiesen ein deutlich erhöhtes Herzinfarkt-Risiko infolge Depressionen nach - und zwar auch dann, wenn alle anderen bekannten Risikofaktoren (Bluthochdruck, Diabetes etc.) fehlten.
Und Univ.-Prof. Dr. Gabriele Moser, Internistin an der Uni-Klinik am Wiener AKH, fand einen deutlichen Zusammenhang zwischen Depressionen und den schweren entzündlichen Darmerkrankungen Colitis ulcerosa und Morbus Crohn und noch mehr: Bis zu 60 Prozent der vom Reizdarmsyndrom Betroffenen leiden, wie ihre Untersuchungen ergaben, an Depressionen, Angst oder massivem Stress.
Alarmierend: Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass ein Viertel der erwachsenen österreichischen Bevölkerung unter psychosomatischen Erkrankungen leidet.
Gefahr sozialer Ausgrenzung
"Arbeit ist wichtig für die psychische Gesundheit, deshalb müssen wir unbedingt für weniger Fehlzeiten sorgen. Je länger jemand nicht zur Arbeit geht, umso schwerer fällt es ihm, sich wieder an den Arbeitsalltag zu gewöhnen", erklärte Dr. Gudjon Magnusson, Direktor der Abteilung Fachunterstützung am WHO-Regionalbüro für Europa die Zielvorgabe. Denn: "Wenn jemand arbeitsunfähig ist, unterliegt er einer starken sozialen Ausgrenzung, die bekanntermaßen mit Stress, Depression und Selbstmord einhergeht."
In der Tat: Kurze Tage und trübes Wetter sind eher selten Ursache einer Depression. Fehlende Zukunftsperspektiven wie vor allem lang andauernde Arbeitslosigkeit erhöhen dagegen das Risiko für diese Erkrankung drastisch. In Deutschland etwa ist die Zahl der behandlungsbedürftigen Depressionen in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen - auf etwa vier Millionen -, wie OA Dr. Henning Schauenburg von der Universität Göttingen bestätigt.
Kündigung als Folge
Die Angst vor sozialer Ächtung und Stigmatisierung hindert dabei viele Betroffene daran, rechtzeitig Hilfe beim Arzt zu suchen, so Experten wie Univ.-Doz. Prim. Dr. Werner Schöny - er ist u. a. Leiter der Sektion Psychiatrie der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie - beim derzeit stattfindenen 7. European Health Forum in Gastein betonten. Auch er sieht den Bereich Arbeit als sehr problematisch für psychisch Kranke, stünde doch nach einem Krankenstand oft eine Kündigung ins Haus: "Die Arbeitslosigkeit liegt bei psychisch Kranken um das Dreifache höher als bei anderen Menschen. Sie laufen Gefahr, zu verarmen und sozial abzudriften. Zum Kampf gegen die Krankheit kommen dann noch das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit und der Existenzangst."
Alte und Junge
Depressionen sind indessen weitgehend gut mit Medikamenten und Psychotherapie behandelbar, ein Klinikaufenthalt ist deshalb nur den seltensten Fällen nötig. Bei zwei Gruppen stößt die Therapie allerdings auf große Schwierigkeiten, nämlich bei den jungen und den alten Menschen, also quasi bei jenen, die noch nicht gearbeitet haben und bei jenen, deren Arbeitsleben beendet ist, weil in beiden Fällen oft Perspektiven fehlen. Genau dieser Umstand führt zu einem erhöhten Suizidrisiko. Bei Jugendlichen deshalb, weil sie noch nicht wissen, wie schön das Leben sein kann, bei den Alten, weil sie oft nur noch auf Verluste zurück blicken können. In beiden Fällen sehen Ärzte "Gefahr imVerzug", Medikamente sind also primär geboten. Doch just diese sind in letzter Zeit immer stärker auf Grund von zum Teil gravierenden Nebenwirkungen ins Zwielicht geraten. Es gilt, neue Strategien zu finden. Und bei den Senioren das ärztliche Vorurteil zu überwinden, dass sie mit Psychotherapie kaum behandelbar seien. Soziale Integration, Aktivitäten und Aufgaben wären auf Dauer wohl die erfolgreichsten Mittel gegen das Leiden dieser beiden Gruppen.
Welttag 10. Oktober
Am Sonntag ist Welttag für seelische Gesundheit, er wurde 1992 von der WHO und der World Federation for Mental Health (WFMH) ins Leben gerufen. Die Psychosomatik steht heuer im Mittelpunkt der Informationsoffensive. Letztlich geht es vor allem darum, endlich das Schweigen zu durchbrechen.