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Wozu heute noch Parteiprogramme?

Von Gabriele Matzner

Gastkommentare
Gabriele Matzner ist Botschafterin a.D. und Autorin (zuletzt: "Gefahr im Anzug"). Foto: Franz Johann Morgenbesser

Das neue SPÖ-Programm könnte nun ein Umdenken nach Jahrzehnten des kontinuierlichen inhaltlichen Niedergangs und Verlusts von Stimmen und intellektueller Kapazität einleiten.


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Die SPÖ ist dabei, sich ein neues Parteiprogramm zu geben. Auf eine erste Phase, in der - binnen knapp zehn Wochen - bis Ende April zu einem von Parteifunktionärinnen und -funktionären zusammengestellten, 68-seitigen "Diskussionspapier" Stellung genommen werden konnte, folgt demnächst eine vier- bis fünfwöchige Mitgliederbefragung mit einem Entwurf, den ein Universitätsinstitut erstellen soll. Verabschiedet werden soll das neue Programm, nach weiteren Diskussionen, auf dem Parteitag im Oktober 2018.

Zeitverschwendung sei das, meinen manche, das Wahlvolk interessiere das ohnehin kaum, und die Politiker hielten sich nicht daran. Solche Argumente tauchen immer auf, wenn in der Politik über etwas Grundsätzliches, über den Tag Hinausgehendes geredet und beschlossen werden soll. Sie sind aber grundsätzlich nicht treffend: Eine politische Partei ist kein Ruderklub oder Gesangsverein, auch keine Steigbügel-Halterei oder Pfründerei, sondern eine Gesinnungsgemeinschaft. Und die sollte sich daher von Zeit zu Zeit ihrer Gesinnungen (Prinzipien) vergewissern beziehungsweise diese bekräftigen, adjustieren, aktualisieren, schon weil neue Generationen heranwachsen und Umstände sich ändern. Außerdem ist fast das Wichtigste an so einem Programm die Art und Weise seines Zustandekommens, nämlich ein möglichst breiter Diskussionsprozess.

Dass nun überhaupt der oben skizzierte, vom Karl-Renner-Institut gemanagte Prozess im Gang ist, kann angesichts des Vorlaufs jahrelanger Inaktivität und Intransparenz, verursacht durch Blockaden und Desinteresse von oben, als bemerkenswert gelten. Offenbar ist es gelungen, aus einem Haufen angesammelter Papiere jene Diskussionsgrundlage zu konstruieren, für die sich bisher immerhin rund 16.000 der rund 200.000 SPÖ-Mitglieder interessiert haben. Für die Mitgliederbefragung im Juni hofft man auf 20 Prozent Beteiligung. (Dass es die Partei offenbar verabsäumt hat, systematisch E-Mail-Adressen ihrer Mitglieder zu erfassen, gehört zum Komplex Organisationsreform, der ebenfalls angegangen werden soll.)

Programmentwicklung"top down" statt "bottom up"

Doch bleibt der Prozess, so wie jetzt angelegt, trotz Ermutigungen zu Mut, Transparenz und Öffnung durch die Parteiführung, im Prinzip "top down" und wirkt im Übrigen zeitlich hastig - weshalb nun plötzlich, nach sechs Jahren Stillstand, Eile geboten sein soll, ist nicht ersichtlich, allerdings durch den personellen Wechsel an der Parteispitze und im Renner-Institut durchaus erklärbar.

Das letzte diese Bezeichnung verdienende Parteiprogramm der SPÖ (1978, zu einer allgemein sehr viel autoritäreren Zeit) kam aber mehr "bottom up" und mit einer viel breiteren Beteiligung zustande. In einer ersten Phase brachten nämlich Mitglieder (damals rund 700.000!) selbst Wünsche und Vorstellungen vor, die dann Basis eines in (acht) Arbeitsgruppen abzuarbeitenden "Problemkatalogs" wurden. Beteiligt an dem mehr als drei Jahre dauernden Prozess mit vielen Papieren und Diskussionen waren viele Tausende, und zwar nicht nur Parteimitglieder, nicht nur Experten, nicht nur Inländer.

Dass dieses sogenannte Mai-Programm von 1978 nachträglich kaum beachtet wurde, ist eine andere Geschichte. Immerhin wird es in dem nunmehrigen Diskussionspapier wenigstens erwähnt, denn inhaltlich scheint es noch heute bemerkenswert: etwa in der Forderung nach sozialer Demokratie, Reform der Entscheidungs- und Eigentumsverhältnisse, (schon damals gefährdeter) Ethik in der Partei etc.

Apropos Geschichte: Das (im aktuellen Entwurf nicht einmal erwähnte) Programm von 1998 atmete den Geist des "dritten Weges", auf den damals die meisten Sozialdemokraten in Europa und darüber hinaus eingeschwenkt waren - sprich: Neoliberalismus mit bestenfalls menschlichem Antlitz, mit den Leithammeln Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder, in Österreich abgeschwächt mit Franz Vranitzky und Viktor Klima. Zu dieser Zeit war Egon Matzner (1938 bis 2003) - einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste "facilitator" (wie man heute sagen würde) des 1978er-Programms und gemeiniglich als "Vordenker" medial vorgeführt, der damals schon auf Jahrzehnte als unerhörter Warner vor dem Untergang der SPÖ zurückblicken konnte - bereits aus der SPÖ ausgetreten beziehungsweise von ihr ausgetreten worden.

Dramatischer Niedergangder Sozialdemokratie

Den Sündenfall des "dritten Weges", diesen "Exodus an rechte Ufer" (Zitat Egon Matzner), mit ziemlicher Sicherheit zumindest mitverantwortlich für ihren dramatischen und noch immer nicht gestoppten Niedergang (außer zum Beispiel unter Jeremy Corbyn in Großbritannien), hat die Sozialdemokratie bis heute nicht bewältigt, ja nicht einmal eingestanden. Auch nicht in dem vorliegenden Diskussionspapier, in dem (im dritten Punkt) behauptet wird, die Sozialdemokratie habe (überall und kontinuierlich) einen "Abwehrkampf" gegen die "neoliberale Demontage des Sozialstaats" geführt und dabei an Zustimmung und Unterstützung verloren. Das stimmt nicht. Und ist kein unwesentliches Detail unter anderen, auf die hier einzugehen im Übrigen nicht der Platz ist.

Eine "Restauration" der Sozialdemokratie, wie sie der damals gerade erst Bundeskanzler gewordene nunmehrige Oppositionsführer Christian Kern in einem viel beachteten Interview für die "Süddeutsche Zeitung" im Juni 2016 versprach, wäre gewiss ein wichtiges Ziel, dem ein ehrliches, ambitioniertes, griffiges, verständliches, breit und offen diskutiertes prinzipientreues Parteiprogramm dienen könnte. Dazu wäre es, neben intellektuell-ideologischer Ehrlichkeit betreffend Irrwege, vor allem nötig, die Partei aus dem "Container" (Zitat Egon Matzner), der selbstbezogenen, ängstlichen, tendenziell autoritären Isolation, wieder in die Offenheit zu führen beziehungsweise dies zuzulassen. Nach Jahrzehnten kontinuierlichen inhaltlichen Niedergangs, Verlusts nicht nur von Stimmen, sondern vor allem von intellektueller Kapazität, den auch eine Oppositionsrolle nach 2000 nicht bremsen konnte, könnte nun der Anfang eines Umdenkens stattfinden.

Wichtig wäre eine Restauration des Politischen, im Übrigen nicht nur für die SPÖ, sondern auch für andere Parteien. Es herrscht überhaupt ein Mangel an Prinzipien und Orientierung, die über den Alltag und wahlkampftaugliche Themen und Slogans hinausgehen. Es gibt eine Nachfrage nach Diskussionen über wichtige Fragen und nach einem ehrlichen und erklärenden Narrativ, das sich mit den greifbaren und nachvollziehbaren Themen, die die Menschen berühren, beschäftigt, Alternativen aufzeigt und Visionen für eine andere Gesellschaft skizziert. Wenn die SPÖ die Chance nicht ergreift, werden diese Nachfrage weiter Hetzer und Dämonen bedienen.