"Rechtlich gesehen ist diese Frage völlig eindeutig", sagte EU-Justizkommissarin Vivian Reding zur Causa Michail Golowatow und fügte hinzu: "Wir dürfen die politische Dimension nicht vergessen."
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Gelten jetzt zwei irritierende Moralitäten - eine formal-juristische und eine dreifach aufgedröselte politische?
Erstens: Litauen will den ehemaligen KGB-Oberst Michail Golowatow für den "Blutsonntag" 1991 in Vilnius vor Gericht bringen. Die unter seinem Kommando stehende Sowjet-Spezialeinheit "Alpha" stürmte damals den Fernsehturm in Vilnius, erschoss 14 Unbewaffnete und verletzte an die 1000 Zivilisten. Zehn Monate zuvor hatte die erste frei gewählte Volksvertretung Litauens Unabhängigkeit proklamiert, worauf der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow über das Land eine Wirtschaftsblockade verhängte, damit es auf die Unabhängigkeit verzichte. Vergeblich.
Daher inszenierten Moskaus fünfte Kolonne, sowjetische Militärs und der KGB einen Putsch, der zwar das Blutbad beim Fernsehturm anrichtete, aber scheiterte. So durften drei Wochen später 90 Prozent der Litauer in einem Referendum für die Unabhängigkeit stimmen. Gorbatschow erklärte sie trotz Perestroika und Glasnost für ungültig.
Zweitens: Ende 1917 gründete Lenin den Geheimdienst Tscheka - später in KGB umbenannt - als Instrument des "roten Terrors" zum Schutz des sowjetischen Klassen-Totalitarismus. Also ist ein KGB-Oberst kein kleines Rädchen in einem straffen Repressionsapparat. Vielmehr musste Golowatow in Litauen für sowjetische Ordnung und Linientreue zu sorgen - eben mit den Methoden des strukturellen Terrors.
Es spielt keine Rolle, ob Golowatow jemanden eigenhändig umgebracht hat. Er exekutierte, was Tscheka-Gründer Felix Dserschinski als "unbeschränkte Handlungsfreiheit ohne jegliche juristische Pendanterie" definiert und Lenin als "neue Form der Klassengerechtigkeit" gepriesen hatten.
Drittens leuchtet ein, warum Moskau Österreichs juristischer Entscheidung, Golowatow freizulassen, gehörig nachgeholfen hat. Der russische Botschafter ließ "über telefonische Intervention" den zuständigen Oberstaatsanwalt um 3.15 Uhr aus dem Bett holen. Prompt wurde Golowatow nicht als "Festgenommener zwecks Auslieferung" in die Justizanstalt Korneuburg überstellt, sondern als "vorläufig Angehaltener" im Flughafen Schwechat betreut. Eigenartig sind die widersprüchlichen Aussagen zur verblüffend holprigen Kommunikation zwischen Wien und Vilnius: Österreich nutzte nicht die Möglichkeit, Golowatow 48 Stunden "anzuhalten". Er durfte nach 22 Stunden abfliegen - 52 Minuten, bevor die angeforderten Dokumente aus Vilnius in Wien einlangten.
Österreich ließ einen raren Vogel fliegen und bewahrte ihn vor dem litauischen Käfig. Erleichtert klingt also Moskaus Lob, dass Österreich "unvoreingenommen, im Einklang mit den Gesetzen und höchst professionell reagiert" habe. EU-Justizkommissarin Vivian Reding vertritt den gleichen Standpunkt. Wozu dann noch eine parlamentarische Untersuchung? Ist eh alles okay.
So unterbleibt die gerichtliche Klärung der Rolle Golowatows und des Kreml rund um den "Blutsonntag" 1991 in Vilnius.
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".
Dieser Gastkommentar gibt ausschließlich die Meinung des betreffenden Autors wieder und muss sich nicht zwangsläufig mit jener der Redaktion der "Wiener Zeitung" decken.