Zum Hauptinhalt springen

Wunderschön, herzzerreißend normal

Von Melanie Brooks

Gastkommentare
Melanie Brooks ist Leiterin der Kommunikation bei Care International.

Banda Aceh zehn Jahre nach dem Tsunami: Auch wenn viele Narben noch nicht verheilt sind, blicken die Menschen wieder nach vorne.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Vor zehn Jahren, als ich das erste Mal nach Banda Aceh kam, war ich Teil des Nothilfeteams der Hilfsorganisation Care nach einer der größten Naturkatastrophen, die die Welt in jüngster Vergangenheit erlebt hatte: dem Tsunami im Indischen Ozean, der alleine in Indonesien mehr als 167.000 Menschen getötet hatte. Damals waren die Flugzeuge voller ausländischer Helfer.

Der Tsunami war die erste große Katastrophe, bei der ich als junge Nothelferin zum Einsatz kam. Dieses Erlebnis verfolgt mich seither. Ich werde nie das Flüstern einer Mutter vergessen, die beschrieb, wie es sich anfühlte, als ihr die Hand ihres Sohnes entglitt, den die Wellen unter Wasser zogen. Ich werde nie den Geruch der Leichen vergessen, die im Geröll begraben lagen, und die unfassbar großen Anhäufungen lebloser Bäume und Körper.

Heute ist Banda Aceh kaum wiederzuerkennen. Überall schossen neue Gebäude aus dem Boden, und die tropische Sonne hat sie bereits so ausgeblichen, dass sie aussehen, als stünden sie schon immer dort. An der Stelle des gewaltigen Wasserturms in der Stadtmitte, den das Erdbeben vor dem Tsunami beschädigt hatte, ist heute ein Kinderspielplatz. Sogar die Häuser, die für die Überlebenden gebaut wurden, sind verändert. Über die Jahre haben die Menschen sie erweitert und neu gestrichen, umgeräumt und sich eingerichtet. Als ich zu den neu gebauten Tsunami-Evakuierungszentren hinaufsteige, bestaune ich die Stadt, die mir unbekannt und doch normal vorkommt. Schön, herzzerreißend, aber normal.

"Außerordentlich" ist das Wort, das die meisten Menschen verwenden, wenn sie von den Veränderungen in ihrer Stadt in den vergangenen zehn Jahren erzählen. Ja, die Hilfe nach dem Tsunami war nicht perfekt - vieles hätten wir besser machen können. Aber hier sehe ich, wie die Welt das Leben von Menschen verändern kann. Wie wir ihnen eine Chance geben können, dort neu anzufangen, wo es zunächst unmöglich schien. Und ich sehe, wie die Menschen in Banda Aceh hart gearbeitet haben, um alles wiederaufzubauen und weiter nach vorne zu blicken nach einer so unvorstellbar furchtbaren Katastrophe.

Die Veränderung ist überall zu sehen. Ein kleines Mädchen, das nach dem Tsunami fast an Unterernährung gestorben wäre, träumt jetzt davon, Lehrerin zu werden.

Ein älteres Ehepaar, das dachte, es würde obdachlos sterben, hat jetzt ein einladendes Haus, in dem die Enkel spielen und Kekse aus der Küche stibitzen. Eine Frau hat ein Geschäft eröffnet und verdient nun genug Geld, um ihrem Sohn zu helfen, die Universität zu besuchen. Ein Fischer hat seinen Laden wiederaufgebaut und beschäftigt acht Angestellte, die alle nach dem Tsunami arbeitslos waren.

Es gibt noch immer Narben. Es gibt Arbeitslose und Menschen, die sich über fehlende Versorgung beschweren. Andere Narben werden nie ganz heilen. Eine Frau begann leise zu weinen, als sie mir von ihren zwei kleinen Kindern erzählte, die beim Tsunami starben. Jeden Dezember fließen ihre Tränen erneut. In vielen Familien weckt jedes Beben alte Ängste. Aber für die meisten hier ist der Tsunami Vergangenheit: Man erinnert sich daran, aber es diktiert nicht das heutige Leben. Banda Aceh ist im besten Sinne des Wortes zurück zur Normalität gekehrt.