Ohne straffe Organisation scheitert Widerstand an einem Erb-Übel der österreichischen Politik: dem Aussitzen.
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Im ORF-Bürgerforum beichtete jüngst das SPÖVP-Gespann zerknirscht schwere Unterlassungssünden, weshalb alle grundlegenden Reformen auf der langen Bank blieben. Jetzt fiel wenigstens der Widerstand gegen einen Untersuchungsausschuss, der endlich die jahrelang verschleppten nationalen Skandale "aufzuarbeiten" verspricht. Das soll jene 75 Prozent der Österreicher befriedigen, die "der Politik" misstrauen? Ein U-Ausschuss kompensiert doch nicht unterlassene Reformen.
Wer in Österreich kennt wenigstens den Namen des/der Abgeordneten seines Wahlreises, damit man sie persönlich zur Rechenschaft herausfordern könnte? Wer den Namen "seines" Bundesrats in diesem Ausgedinge für brave Parteisoldaten?
Um Bürgernähe und Selbstreinigung in Gang zu setzen, erwog die SPD heuer den revolutionären Kraftakt, in die Auswahl ihrer Kandidaten für politische Ämter SPD-Nichtmitglieder stimmberechtigt einzubinden. Der Mut reichte aber nur zum Stimmrecht in SPD-Arbeitsgemeinschaften. Für unsere staatstragenden Parteien wäre das purer Polit-Übermut, der das durch Klubzwang zementierte Machtgefüge ins Wanken brächte.
Alle heimischen "Wutbürger" begeistern sich an den deutschen "Piraten", die jüngst bei den Berliner Wahlen auf Anhieb 8,9 Prozent erreichten. Doch gemach: Von 2,4 Millionen wahlberechtigten Berlinern stimmten 1,4 Millionen (oder 60 Prozent) ab, davon entfielen auf die "Piraten" 124.000 Stimmen. 40 Prozent verzichteten auf ihr Wahlrecht. Die Wahlbeteiligung lag um 48.000 oder zwei Prozentpunkte über jener von 2007. Von diesen ehemaligen Nichtwählern motivierten die "Piraten" 20.000 zur Abstimmung, ebenso viele Stimmen holten sie sich je von der SPD und der Linkspartei, den Rest von allen anderen. Doch es blieb bei einer Million Nichtwähler. Allerdings vermasselten die "Piraten" Rot-Grün erstmals die Mehrheit.
Gegen unseren Polit-Stillstand macht ein Dutzend Initiativen mobil. Hervorragend, denn diese Initiativen haben Zulauf. Obendrein haben einige präventiv als "Altpolitiker" Denunzierte "Wutbücher" geschrieben. Auch hervorragend. Aber das alles droht aus zwei Gründen zu versanden. Erstens stehen hinter den Initiativen weder effiziente Organisationen noch professionelle Aktivisten, die sie vernetzen und koordinieren sowie den Unmut der Wutbürger sammeln, zweckgerichtet kanalisieren und lebendig erhalten. Wie will man 200.000 Demonstranten auf dem Ballhausplatz versammeln, damit "die Politik" begreift, dass die Untertanen nicht nur die Faust in der Tasche ballen und Dampf am Biertisch ablassen?
Zweitens ist das äußerst mühsam. Wie es organisatorisch trotzdem ginge, beschreibt die Belgrader "Umsturz GmbH". Deren Anleitungen zum gewaltfreien Umsturz machen in Arabien dem Koran den Platz eins der Bestsellerliste streitig.
Gewiss, die Belgrader bekämpften Diktaturen. Aber ihre bewährten organisatorischen Anleitungen wirken auch gegen eine Regierung, die eine politische Untugend perfektioniert hat: das Aussitzen.